„Herausfinden, was die Symptome auslöst“

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Menschen mit Schizophrenie werden oft nur mit Medikamenten behandelt. Das allein reicht aber selten aus, um sie langfristig zu stabilisieren. Im Interview erklärt Professorin Tania Lincoln, wie eine Psychotherapie Betroffenen hilft, gut mit ihren Wahnvorstellungen umzugehen.

© UHH, RRZ/MCC, Mentz

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Redaktion: Wer schizophren ist, lebt in einer ganz eigenen Welt. Wie stellt er überhaupt fest, dass er Hilfe braucht?

Tania Lincoln: Viele spüren, dass in ihrem Leben irgendetwas nicht stimmt und gehen zum Arzt. Eine meiner Patientinnen fühlte sich von ihrem kompletten Umfeld gemobbt. Sie zog deshalb in eine andere Stadt. Dann verlor sie ihren Job. Sie kam zu mir, weil sie unglücklich war. Sie wollte verstehen, warum sie ihr Leben nicht auf die Reihe kriegt.

Krank fühlte sie sich nicht?

Nein. Ein Arzt hatte zwar Schizophrenie diagnostiziert, doch sie glaubte ihm nicht. Für sie stand außer Frage, dass die anderen – insbesondere ihre Familie – ganz einfach gegen sie waren.

Wie können Sie als Psychotherapeutin da helfen?

Zuerst einmal, indem ich jeden Patienten und seine Sicht der Dinge ernst nehme und mit ihm ins Gespräch komme. Dass ein Mensch mit Schizophrenie so sehr in seiner ganz eigenen Realität lebt, dass man zu ihm keine Beziehung herstellen kann, kommt tatsächlich äußerst selten vor. Mit den meisten Betroffenen kann man gut reden. Dennoch ist eine Psychotherapie in solchen Fällen ein Balanceakt.

Therapie von Schizophrenie

In akuten Krankheitsphasen der Schizophrenie hemmen Psychopharmaka (etwa Antipsychotika) vor allem die Wirkung des Hirnbotenstoffs Dopamin und vermindern dadurch psychotisches Erleben. Dosierung und Therapiedauer sind individuell verschieden und hängen davon ab, in welchem Krankheitsstadium sich der Betroffene befindet. Die meisten können ihre Medikamente nach gut zwei Jahren allmählich wieder absetzen.

Psychotherapie soll Menschen mit Schizophrenie helfen, die Krankheit zu verstehen und zu bewältigen. In der Verhaltenstherapie wird Wert darauf gelegt, ein Erklärungsmodell der Probleme zu erarbeiten. Aus diesem werden Strategien abgeleitet, wie man mit belastenden Symptomen wie Stimmenhören oder Misstrauen am besten umgehen kann. Daneben wird mit dem Patienten geübt, individuelle Frühwarnzeichen der Psychose zu erkennen und im Notfall mit ihnen umgehen zu können.

Mangelndes Selbstwertgefühl kann den Wahn triggern

Was meinen Sie damit?

Ich muss aufpassen, dass der Erkrankte sich nicht gegen mich wendet. Bleiben wir beim Fall meiner Patientin: Sie glaubte, dass ihre ganze Familie sie mobbt. Würde ich nun erklären, dass sie sich das nur einbildet, denkt sie vielleicht schnell: „Die ist also auch gegen mich.“

Wie verhindern Sie das?

Indem ich eine gute Beziehung zu ihr aufbaue. Erst, wenn sie mir wirklich vertraut und ich verstanden habe, was sie erlebt hat und warum sie so denkt und fühlt, können wir an der Psychose arbeiten und die Mechanismen dahinter entschlüsseln.

Sind die nicht biologisch bedingt?

Natürlich gibt es auch eine genetische Disposition. Aber auch frühe Traumata können Menschen anfällig machen, später an Schizophrenie zu erkranken. Was diese im Erwachsenenalter letztendlich auslöst, ist jedoch individuell sehr verschieden. Das können der Stress auf der Arbeit sein oder zwischenmenschliche Konflikte, zusammen mit mangelndem Selbstwertgefühl. Hinzu kommt oft auch eine bestimmte Art zu denken und zu urteilen, die den Wahn triggern.

Was heißt „eine bestimmte Art zu denken“?

Zum Beispiel so etwas wie voreiliges Schlussfolgern. Sie sind auf der Straße und sehen einen Kollegen, der Sie nicht grüßt. Was denken Sie?

Der hat mich nicht gesehen.

Genau. Vielleicht hat er auf den Boden geschaut, war in Gedanken oder hat seine Brille nicht auf. Um zu einer solchen Schlussfolgerung zu kommen, muss man allerdings genau hinschauen und verschiedene Informationen einbeziehen. Meine Patientin würde hingegen wahrscheinlich denken: „Der hat was gegen mich.“ Auf die Idee, dass er sie nur nicht gesehen hat, kommt sie nicht, weil sie nicht genügend Informationen miteinbezieht. Stress bei der Arbeit könnte solche paranoiden Bewertungen dann im Laufe der Zeit dahingehend verstärken, dass die Patientin sogar denkt, ihr Kollege plane sie zu vergiften. Als Therapeutin behandle ich die Wahnvorstellungen meiner Patienten daher wie eine Hypothese.

Aktuelle Studie

Forscher wollen nun versuchen, die Therapie von Menschen mit Schizophrenie zu vereinfachen. Statt direkt die jeweiligen Wahnvorstellungen zu behandeln, arbeiten die Wissenschaftler mit den Patienten ausschließlich an deren Selbstwertgefühl und an ihrem Umgang mit Emotionen. Das Ziel: Die Therapie soll zu einer grundlegenden Selbstakzeptanz und zu einer höheren emotionalen Stabilität führen, damit die Betroffenen nicht mehr so anfällig für Psychosen sind. Wie gut das funktioniert, untersuchen derzeit Wissenschaftler der Psychotherapie-Ambulanzen der Universitäten Hamburg und Marburg im Forschungsprojekt „Emotionsfokussierte Kognitive Verhaltenstherapie bei Menschen mit Psychosen“ (CBT-E).

Viele Therapeuten sind nicht ausreichend qualifiziert

Was bedeutet das?

Wir überlegen gemeinsam: Was spricht für die Hypothese? Was spricht dagegen? Dann geht es darum, alternative Erklärungsmodelle zu entwickeln. Es geht aber auch darum, gemeinsam herauszufinden, was Symptome auslöst und aufrecht erhält und an diesen Punkten anzusetzen.

Haben Sie damit Erfolg?

Ja. Die meisten Betroffenen sind nach der Behandlung deutlich stabiler. Deshalb ist es auch so schade, dass nur wenige Therapeuten diese spezielle Therapie anbieten.

Woran liegt das?

Niedergelassene Therapeuten sind oft nicht ausreichend qualifiziert. Gerade die Älteren wissen teilweise gar nicht, dass sich Schizophrenie psychotherapeutisch behandeln lässt. Die Behandlung wird zwar seit 2006 in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) empfohlen, in der Praxis ist das jedoch noch nicht angekommen.

Und in der Psychiatrie?

Dort gibt es zwar stabilisierende Gespräche, für eine lange Psychotherapie ist jedoch meist keine Zeit. Die Ärzte verordnen daher meistens nur Medikamente.

Und das ist falsch?

Medikamente reduzieren zwar die Symptome, sie lösen aber nicht das Problem. Wenn der Patient sie absetzt, sollte er verstehen, was den Wahn oder andere Symptome bei ihm auslöst und wie er den nächsten Schub vermeiden oder wenigstens frühzeitig erkennen kann. Hierbei hilft die Psychotherapie. Sie ist keine Wunderwaffe, doch Medikamente alleine reichen eben auch nicht aus.