„Das Ritzen half mir, Druck abzubauen“

„Das Ritzen half mir, Druck abzubauen“

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Katrin Zeddies ist 36, Therapeutin, Buchautorin, Mutter eines einjährigen Jungen und Borderlinerin. Uns erzählt sie, wie sie es schaffte, die Krankheit in den Griff zu bekommen und was einen Menschen dazu treibt, sich selbst zu verletzen.

Redaktion: Was bedeutet Borderline überhaupt?

Katrin Zeddies: Der Begriff kommt aus dem Englischen und heißt „Grenzlinie“. Früher dachte man, Borderline sei eine Erkrankung, die die Persönlichkeitsstörungen Neurose und Psychose voneinander abgrenzt, eine Art leichte Schizophrenie. Heute weiß man, dass das nicht stimmt, und spricht von einer Störung der Emotionsregulation.

Wie fühlt sich das für Sie als Betroffene an?

Für Borderliner wie mich gibt es in der Regel kein Dazwischen, keine emotionalen Zwischentöne. Wir nehmen die Welt um uns herum, aber auch unsere eigenen Gefühle um ein Vielfaches intensiver wahr, werden von ihnen gesteuert und stehen ständig unter Anspannung. Dazu kommt dieses permanente Gefühl innerer Leere und Langeweile.

Weiß man, woher die Krankheit kommt?

Ich glaube, viele Betroffene sind hochsensibel und haben in ihrer Kindheit ein schweres Trauma erlitten. Warum genau manche Menschen die Krankheit entwickeln und andere nicht, weiß man jedoch nicht. Hier gibt es viele Theorien.

Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die Borderline-Erkrankung gehört zum Spektrum der Persönlichkeitsstörungen. Betroffene handeln meist impulsiv und sind emotional sehr instabil. Innerhalb weniger Sekunden können sie ihre Stimmung, ihr Selbstbild oder ihre Meinung zu anderen Menschen wechseln. Borderline-Persönlichkeiten fällt es daher schwer, stabile Beziehungen zu führen. Zudem leiden viele an massiven Ängsten – etwa vor dem Alleinsein – und fühlen sich innerlich leer. Nicht selten versuchen sie, durch selbstschädigendes Verhalten – wie beispielsweise die Einnahme von Drogen oder Ritzen – diese Anspannung abzubauen. Dadurch, dass Selbstverletzungen und Drogen die innere Spannung scheinbar sofort lindern, entwickeln Menschen mit Borderline rasch suchtähnliche Verhaltensweisen.

Gut zehn Prozent der Betroffenen versuchen einen Suizid. Schätzungen zufolge erkranken rund drei Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens an einer Borderline-Störung. Ursächlich für das Entstehen der Krankheit sind vermutlich genetische Faktoren sowie traumatische Erfahrungen in der Kindheit, etwa schwerer Missbrauch.

„Früher war ich dem Hass ausgeliefert“

In Ihrem autobiografischen Roman „Mein langer Atem. Ein Leben mit Borderline“ nennen Sie sich eine „trockene Borderlinerin“. Was meinen Sie damit?

Psychiatrische Klassifikationssysteme definieren die Erkrankung anhand von neun Kriterien. Darunter fallen impulsives Verhalten, unangemessen starke Wutausbrüche oder die starke Angst, verlassen zu werden. Leidet ein Mensch an mindestens fünf dieser Eigenschaften, sprechen Ärzte vom Borderline-Syndrom. Seit einigen Jahren erfülle ich diese fünf nicht mehr.

Wie haben Sie das geschafft?

Zwischen 35 und 40 nimmt die Intensität der Störung meist ab. Wir Therapeuten bezeichnen das auch als spontane Remission. Über die Jahre habe ich aber auch stark an mir gearbeitet und Strategien entwickelt, meine Gefühlsausbrüche weitestgehend zu steuern.

Haben Sie ein Beispiel?

Mir persönlich hilft es, mich selbst ganz genau zu beobachten und darauf zu achten, in welcher Stimmung ich gerade bin. Streite ich mich beispielsweise mit meinem Mann, werde ich oft nicht nur wütend, sondern entwickle auch starke Hassgefühle. Früher war ich diesem Hass ausgeliefert. Mittlerweile habe ich gelernt, achtsam zu sein und solchen Emotionen nicht nachzugeben. Im Grunde beobachte ich mich permanent selbst.

Sich und seine Gefühle ständig regulieren zu müssen, klingt enorm anstrengend.

Es klappt auch nicht immer. Während eines anderen Streits mit meinem Mann habe ich beispielsweise minutenlang das Licht an- und ausgeknipst, weil er sich distanzieren und zurückziehen wollte. Das war natürlich sehr kindisch von mir, trotzdem konnte ich damit einfach nicht aufhören. Ich wollte meinen Mann herausfordern, mit mir ins Gespräch zu gehen.

Ritzen und Drogen gegen die innere Leere

Wie kommt man aus dem Gefühlsstrudel wieder raus?

Dadurch, dass wir Borderliner unsere Emotionen um ein Vielfaches intensiver wahrnehmen als andere, braucht es im Gegenzug auch extreme Reize. Das kann eine eiskalte Dusche sein oder auch eine Stunde Joggen. Was einem genau hilft, muss allerdings jeder für sich selbst herausfinden. Wichtig ist, dass die Reize einen dazu bringen, sich wieder selbst zu spüren.

Wann merkten Sie selbst, dass Sie eine Borderline-Störung haben?

Die Diagnose erhielt ich mit 17. Dass mit mir etwas nicht stimmt, habe ich allerdings schon früher gemerkt. Bereits als Kind war ich sehr ängstlich. In der Grundschule fiel es mir dann zunehmend schwer, Nähe zuzulassen. Ich brach Freundschaften schnell ab, litt unter Wutausbrüchen und hatte große Verlustängste. Mit 14 fing ich dann an, mich zu ritzen.

Ging es auch hier darum, sich selbst zu spüren?

Ja. Ich konnte diese permanente innere Leere einfach nicht mehr ertragen und da bekamen Glasscherben plötzlich etwas sehr Faszinierendes. Der Schmerz half mir, Druck abzubauen. Zu Beginn dachte ich, ich verletze mich selbst, um die Aufmerksamkeit anderer zu bekommen. Als ich es sein lassen wollte, weil niemand mehr reagierte, konnte ich es nicht. Es war zur Sucht geworden. Meine Eltern waren wie ohnmächtig und ließen mich einfach machen. Das macht mich ehrlich gesagt heute noch wütend.

Bücher von Katrin Zeddies 

Über ihr Leben mit Borderline hat die Therapeutin Katrin Zeddies zwei autobiografische Romane geschrieben: „Mein langer Atem. Ein Leben mit Borderline“ und „Drahtseiltanz. Ausschnitt einer Beziehung in emotionaler Instabilität“.

Was geschah dann?

Ich begann, Drogen zu nehmen. Mich in Rauschzustände zu versetzen, war auch eine Art Flucht. Die erste Person, die mir und meinem selbstzerstörerischen Verhalten eine Grenze setzte, war tatsächlich meine erste DBT-Therapeutin.

Lernen, seine Gefühle zu kontrollieren 

Was hat sie gemacht?

Für die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) – das ist eine spezielle Behandlung für Borderliner, bei der wir unter anderem lernen, unsere Gefühle zu kontrollieren – musste ich drogenfrei sein. Ich zog vor der Sitzung einen Joint und kam bekifft zu ihr in die Praxis; sie schmiss mich raus und brach die Therapie ab. Ich bekam dann zwei Jahre Therapiesperre, suhlte mich in Selbstmitleid, kiffte weiter und war unglaublich wütend auf sie. Heute bin ich ihr dafür dankbar.

Wieso das?

Sie hat mich ernst genommen und mich dazu gebracht, die folgende Therapie ernst zu nehmen. Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen den Krisen dann immer größer. Dass ich heute fähig bin, eine Beziehung zu führen und ein Kind aufzuziehen, ist das Ergebnis harter therapeutischer Arbeit.

Sind Sie heute geheilt?

Nein. Aber ich habe gelernt, mit der Krankheit umzugehen.