Integration mit Hindernissen

© Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN/Tobias Gratz

FÖV-Team vor dem Einsatz

Markus und Marlen haben eigentlich nicht viel gemeinsam. Außer: Beide haben eine körperliche Behinderung und konnten trotz abgeschlossener Ausbildung auf dem regulären Arbeitsmarkt keinen vernünftigen Job finden. Nun arbeiten sie bei der FÖV, einem gemeinnützigen Integrationsbetrieb in Berlin.

„Für Menschen wie mich ist der Arbeitsmarkt schwierig“, sagt Markus etwas zögerlich. Nach seiner Ausbildung zum Zierpflanzenwerker bekam er nur befristet Arbeit. Eine Beschäftigung, ein Minijob folgte dem nächsten. Immer auf kurze Zeit, immer nur für wenige Monate. Es waren Jobs ohne Perspektive. Zuletzt gärtnerte der 29-Jährige auf einem Berliner Friedhof.

Erst bei der FÖV, einem gemeinnützigen Integrationsbetrieb in Berlin-Spandau fand er eine feste Anstellung. Hier unterschrieb er seinen ersten unbefristeten Vertrag. Die FÖV hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit Förderbedarf in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren.

Die FÖV Service

Die FÖV Service gemeinnützige Integrationsgesellschaft mbH ist ein 100-prozentiges Tochterunternehmen des Förderervereins Heerstraße Nord e.V., der sich seit mehr als 30 Jahren gemeinnützig in Berlin-Spandau engagiert. Im Jahr 2010 wurde die FÖV Service vom Verein gegründet. Seitdem hilft sie Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen bei der Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Vor seiner FÖV-Zeit hatte das Wort „Integration“ für Markus keine besondere Bedeutung. „Ich dachte immer, eine gute Ausbildung müsste reichen“, erklärt er. Das war ein Trugschluss. Markus ist zu 50 Prozent körperlich behindert. Für den sogenannten ersten Arbeitsmarkt ist das nach wie vor ein Hindernis.

Bei Marlen war es ähnlich. Auch sie glaubte, dass sie es mit einer Ausbildung schaffen würde, selbst für sich sorgen zu können. Seit ihrer Kindheit sitzt die 27-Jährige im Rollstuhl. Über ihre Behinderung redet sie nicht gerne. Nach der Schule hat sie in Potsdam eine Ausbildung zur Bürokraft absolviert. Danach bewarb sie sich und bekam eine Absage nach der anderen.

Arbeiten bei der FÖV

„Die Frau von der Jobvermittlung wollte mich immer wieder in eine Werkstatt für Behinderte stecken“, erinnert sich die junge Frau: „Aber wofür hätte ich dann die Ausbildung gemacht?“ Irgendwann war Marlen so verzweifelt, dass sie sich bei McDonald’s bewarb. Zu einem Bewerbungsgespräch wurde sie nicht eingeladen. Dann erfuhr sie von der FÖV, machte dort ein einmonatiges Praktikum und wurde direkt übernommen. „Plötzlich ging alles so einfach“, sagt sie und lacht.

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Sebastian Doppelstein

„Wir sind kein Sozialverein“, sagt FÖV-Geschäftsführer Sebastian Doppelstein ohne Zögern. Offenbar hat er das schon oft erklären müssen. Vor vier Jahren wurde der Betrieb unter dem etwas sperrigen Namen „FÖV Service gemeinnützige Integrationsgesellschaft mbH“ gegründet. Die FÖV ist eine Dienstleistungsfirma – im Wettbewerb muss sie sich behaupten, sich auf dem Markt durchsetzen. Dabei haben rund 50 Prozent ihrer Angestellten eine körperliche Behinderung oder sind psychisch krank.

Zu den Angeboten der FÖV gehört die Gartenpflege, bei der Markus arbeitet, aber auch die Reinigung von Haushalten und Büros. Dann ist da noch der Hausnotruf, so etwas wie das Herzstück der FÖV. In der gut ausgestatteten Telefonzentrale gehen Anrufe von pflegebedürftigen, mitunter auch dementen Personen ein. Wenn sie nach einem Sturz nicht mehr alleine aufstehen können, erkrankt sind oder vielleicht nur vergessen haben, welcher Tag ist, können sie per Knopfdruck Kontakt zur Zentrale aufnehmen und sich helfen lassen – rund um die Uhr, an 365 Tagen im Jahr.

Die größte Herausforderung für die FÖV ist es, die Mitarbeiter entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten richtig einzusetzen. Was nicht immer einfach ist: „Einen Menschen mit Klaustrophobie“, so Doppelstein, „kann ich nicht zum Putzen in ein enges Büro schicken.“

Durch die unterschiedlichen Behinderungen der Mitarbeiter lassen sich die verschiedenen Arbeitsprozesse nicht „stromlinienförmig“ gestalten. „Schaffen andere Firmen vielleicht bis zu vier Gärten am Tag“, rechnet der Geschäftsmann vor, „sind es bei uns drei oder auch nur zwei.“ Allein durch öffentliche Zuschüsse lässt sich das kaum ausgleichen.

Vom Pech verfolgt

Markus hat Epilepsie. In der Grundschule litt er noch häufig unter den Anfällen. Seitdem er 14 ist, hat er die Krankheit mit Medikamenten im Griff. „Pilot hätte ich trotzdem nicht werden können“, meint er. Doch die Arbeit im Garten gefällt ihm. Trotz seines lädierten Rückens – als Junge hatte er einen Unfall. Markus kennt seinen Körper, er weiß, wie er sich bewegen muss und was er sich zutrauen kann. Beim Jäten müssten die Kollegen sich schon mal für ihn bücken, erzählt er und lächelt: “Die haben es schließlich auch nicht im Rücken.“

© Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN/Tobias Gratz

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Das Büro der FÖV liegt in Staaken, im Berliner Bezirk Spandau. Aus heutiger Sicht kein angesagtes Wohnquartier. In Sachen Barrierefreiheit und Integration – auch wenn man das damals nicht so nannte – war die 70er-Jahre-Siedlung jedoch ihrer Zeit voraus. Hier wurde jedes Haus rollstuhlgerecht konzipiert.

Von dieser Vorreiterrolle ist jedoch schon länger nichts mehr zu spüren. Staaken altert und der Anteil sozialschwacher Haushalte nimmt zu. Nur eine Etage unter den Büros der FÖV verteilt „Laib und Seele“ in den Räumen der evangelischen Kirchengemeinde regelmäßig Essenspakete an Bedürftige.

Nach wie vor wohnen in der Siedlung mehr Rollstuhlfahrer, mehr Menschen mit Behinderungen als in anderen Bezirken Berlins. Auch viele Mitarbeiter stammen von hier. „Zu Anfang gab es nur den Fördererverein“, erzählt Doppelstein, wobei er jede Silbe einzeln betont – kein Förderverein, sondern ein Verein von Förderern. Der Verein initiierte keine eigenen Programme, sondern half engagierten Personen und Gruppen, ihre Vorhaben selbst umzusetzen.

Nur reichte das irgendwann nicht mehr. „Mit dem Verein konnten wir nicht genug bewegen“, erklärt Sebastian Doppelstein: „Also gründeten wir die FÖV-Integrationsgesellschaft.“ Ihr Ziel war es, der wachsenden Anzahl nach Unterstützung suchenden Menschen in Staaken etwas anzubieten und möglichst vielen einen Job zu geben, die sonst kaum eine Chance hatten.

Von Fröschen und Kartoffeln

„Als der erste Anruf einging“, erinnert sich Marlen, „da bin ich fast gestorben.“ Heute ist das Klingeln in der Hausnotrufzentrale der FÖV für sie Routine. Die 27-Jährige gehört zum Urgestein des Betriebs – wenn man das bei einem so jungen Unternehmen überhaupt sagen kann. Marlen ist so gut wie von Anfang an dabei.

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Auch wenn die Arbeit in der Notrufzentrale nicht ihr Jugendtraum war, ist die junge Frau froh, sie zu haben. Sie mag ihre Kollegen und freut sich über das Vertrauen, das man ihr hier entgegenbringt. Mitunter sei der Job sogar ganz lustig. „Wer sonst bekommt bei der Arbeit schon von einem Senioren erklärt, wie man aus Fröschen und Kartoffeln Drogen herstellt“, sagt sie grinsend.

Solche Anrufe sind allerdings eher die Ausnahme. In der Regel rufen die meisten aus Versehen an oder suchen verzweifelt ihre Tabletten. Solche Probleme gibt die FÖV-Zentrale dann an den zuständigen Pflegedienst weiter.

Von der Unterstützung anderer zu leben, war für Marlen nie eine Option. Ihr Mitbewohner ist seit mehr als drei Jahren arbeitslos, erzählt sie: „Da würde ich verrecken.“

Fortsetzung der Förderung ungewiss

Zum Start im Jahr 2010 hatte die FÖV gerade einmal vier Mitarbeiter, heute sind es 40. Die Zahl der Aufträge wächst, und zwar nicht nur von Haushalten oder Unternehmen in Spandau. Gerade hat die Notrufzentrale eine große Einrichtung für betreutes Wohnen in Nordrhein-Westfalen als Kunden gewonnen. „Wirklich schwarze Zahlen schreiben wir trotzdem noch nicht“, sagt Doppelstein. Trotz der Zuschüsse vom Berliner Integrationsamt muss der Fördererverein immer wieder einspringen.

Wie viel jeder Betrieb tatsächlich bekommt, bleibt jedoch oft bis zuletzt ungewiss. In Berlin sind die Gelder knapp. 2017 will die FÖV rund fünf neue Leute einstellen. Doppelstein hofft, dass sein Antrag durchkommt.

 

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Markus und Marlen bekommen von solchen Problemen wenig mit. In dem kleinen Büro des Geschäftsführers sind sie nur selten. Und was die Arbeit der beiden betrifft: Da gibt es kaum Berührungspunkte. Die Entfernung zwischen dem Garten der Kirchengemeinde und der mit Headsets ausgerüsteten Telefonzentrale bleibt auch in einem Integrationsbetrieb eine große.

Das gilt auch für den Arbeitsweg von Markus. Fast eineinhalb Stunden braucht er von Alt-Marienfelde zur Arbeit. Um sieben Uhr muss er anfangen, im Winter manchmal schon um drei – auch das Schneeschippen gehört zu den Dienstleistungen der FÖV. Nach Staaken will Markus allerdings nicht ziehen. Er braucht sein Umfeld und seine Familie. Die FÖV ist ein Teil seines Lebens, sie ist nicht der Mittelpunkt.

In den Nachtschichten ist Marlen oft allein. Zwischen 23 Uhr abends und sieben Uhr morgens sind die Notrufe meist die einzigen Gespräche, die sie führt. Dann ist Schichtwechsel und sie macht sich auf den Weg nach Hause. Marlen nimmt den Bus, fährt heim zu ihrem Mitbewohner und freut sich auf ihre zwei Hunde. Sie kehrt zurück in ihr Leben. Das Wort Integration spielt hier keine Rolle.