Kann ein Neoprenanzug Magersucht heilen?

© picture alliance/JOKER

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Menschen mit Magersucht fühlen sich trotz starkem Untergewicht noch zu dick. Damit sie wieder eine realistische Körperwahrnehmung entwickeln können, nutzt der Tastsinnforscher Martin Grunwald Neoprenanzüge als „Selbstgefühl-Verstärker“.

Magersucht gibt nach wie vor Rätsel auf: Wie genau eine Anorexia nervosa entsteht oder warum manche Menschen sie entwickeln und andere nicht, ist nicht bekannt. Liegt die Ursache in der Kindheit? Welche Rolle spielt der Schlankheitswahn der Gesellschaft? Oder sind doch die Gene schuld?

Einfache Antworten gibt es nicht und entsprechend unterschiedlich sind auch die Therapieansätze. Das Spektrum reicht von Psycho- und Verhaltenstherapie über Körperarbeit bis hin zur Gabe von Medikamenten wie Antidepressiva. Manchmal erfolgt die Therapie ambulant, manchmal ist ein Aufenthalt in der Klinik unumgänglich.

„Bei Patienten mit Anorexie geht es immer zunächst darum, ihr Gewicht zu stabilisieren und ihnen beim Zunehmen zu helfen“, sagt Sibylle Winter von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité in Berlin. Ein Grund, warum viele Betroffene – meistens sind es Mädchen und junge Frauen – das alleine nicht schaffen, ist ihre gestörte Körperwahrnehmung: Sie fühlen sich wirklich zu dick.

„Rational wissen die Betroffenen oft, dass sie zu dünn und im medizinischen Sinn untergewichtig sind“, sagt Martin Grunwald vom Haptik-Forschungslabor der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, „nur können sie dieses Wissen nicht auf sich selbst übertragen.“ Der Psychologe hat deshalb eine neue Form der Therapie entwickelt: Mit maßgefertigten Neoprenanzügen stimuliert er den Tastsinn der Patienten und ermöglicht ihnen die Korrektur der Körperwahrnehmung: „Durch den Druck, den das enge Kleidungsstück auf die Haut und die Gelenke ausübt, lernt das Gehirn, den Körper wieder realer wahrzunehmen.“ Der Ansatz ist ungewöhnlich. Repräsentative Studien zur Wirksamkeit liegen zwar bislang nicht vor, doch die hautengen Kleidungsstücke werden bereits erfolgreich eingesetzt: unter anderem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité in Berlin.

Zahlen zur Magersucht

In Deutschland leiden rund 1,1 Prozent der Frauen und 0,3 Prozent der Männer an Magersucht, so das Ergebnis einer repräsentativen Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) des Robert Koch-Institutes (RKI). Wie viele Mädchen und Jungen von der Krankheit betroffen sind, ist nicht bekannt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2014 rund 12.800 Patientinnen und Patienten stationär wegen einer Essstörung – dazu zählt neben Anorexia nervosa beispielsweise auch Bulimie – behandelt. Magersucht gilt als die psychosomatische Krankheit, die die meisten Todesfälle fordert. Rund jeder sechste Betroffen stirbt an den Folgen der Erkrankung.

Neu lernen zu fühlen

„Ob die Mädchen den Neoprenanzug anziehen oder nicht, entscheiden sie selbst“, sagt Körpertherapeutin Gabriele Riess. Sie hat eine eigene Praxis in Berlin und arbeitet in der Charité dreimal pro Woche mit Magersüchtigen. Die Therapie folgt einem gestuften Programm. „Angefangen wird mit einer Decke, die wir den Mädchen für ein paar Stunden straff um den Bauch wickeln“, erzählt die Therapeutin. Wer damit gute Erfahrungen macht, bekommt nach ein bis zwei Wochen den persönlichen Neoprenanzug. Danach folgen sechs Wochen, in denen die Jugendlichen das Kleidungsstück mindestens dreimal am Tag für eine Stunde tragen. Am Ende steht eine „Entwöhnungsphase“ mit Physio- und Ergotherapie.

Dass sich das Körperbild von Menschen mit Magersucht durch Therapien wie die von Martin Grunwald beeinflussen lässt, zeigen Studien, die der Hirnforscher Professor Boris Suchan von der Ruhr-Universität Bochum zusammen mit Wissenschaftlern der Universität Witten/Herdecke und der Universität Osnabrück durchgeführt hat – die gestörte Körperwahrnehmung macht sich nämlich auch im Gehirn bemerkbar. Im Kernspintomografen entdeckten die Forscher, dass bei Frauen mit Magersucht bestimmte Hirnregionen, die eigentlich für die visuelle Verarbeitung von Körperbildern zuständig wären, viel weniger miteinander verbunden sind. Das Ergebnis: Je schwächer diese neuronale Vernetzung ausgeprägt ist, umso dicker schätzen sich die Betroffenen ein. Was zuerst da ist – die Magersucht oder die spärliche Verschaltung –, lässt sich bislang nicht sagen.

Sicher ist jedoch, dass bereits eine zehnstündige Körperbildtherapie die Aktivität in der „Extrastriate Body Area“ (EBA), einer der betroffenen Hirnregionen, nachweislich erhöht. Das beschreibt eine Studie, die die klinische Psychologin und Psychotherapeutin Professor Silja Vocks an der Universität Osnabrück durchgeführt hat.

Einen ähnlichen Effekt erhofft sich Grunwald auch durch die Behandlung mit Neoprenanzügen. Dass sein Ansatz Wirkung zeigen haben könnte, zeigt die bisherige Resonanz der Patienten. „Mehr als die Hälfte unserer Jugendlichen lässt sich auf die Therapie ein“, sagt Riess, „und rund 80 Prozent der Behandelten fühlten sich durch den Neoprenanzug deutlich besser.“

Neoprenanzug hoffentlich bald Standard

© Gabriele Riess

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Auch am Universitätsklinikum Salzburg werden die Anzüge derzeit ausprobiert. Der Professor für Kinderpsychiatrie Leonhard Thun-Hohenstein hat dort bei seinen Patientinnen eine „nachweisliche Verbesserung der Körperwahrnehmung“ beobachtet. Allerdings wisse man bislang nicht, ob dieser Effekt auch anhalte. Um das herauszufinden, wurde nun eine Pilotstudie gestartet. Erste Ergebnisse soll es Ende 2016 geben.

Körpertherapeutin Gabriele Riess ist auch ohne wissenschaftlichen Wirksamkeitsbeleg von den Neoprenanzügen überzeugt. Sie vertraut auf die Erfolge, die sie sieht. Umso mehr bedauert sie, dass die Anzüge in der Charité immer seltener eingesetzt werden. „Das liegt nicht daran, dass die Nachfrage der Mädchen sinkt oder dass die Behandlung nichts bringt“, sagt Riess: „Grund ist die Bürokratie im Umgang mit den Kostenträgern.“ Rund 200 Euro kostet eine Maßanfertigung. Für jeden Anzug müssen die behandelnden Therapeuten einen Antrag auf Erstattung beim Förderverein der Charité stellen. „Auf Dauer ist das für viele einfach zu aufwendig“, sagt sie. Patientinnen, die es sich leisten können, zahlen die Neoprenanzüge deshalb oft selbst.

Ist der Nutzen der Neoprenanzüge erst durch wissenschaftliche Studien belegt, hofft Riess, werden die Neoprenanzüge aber vielleicht bald Standard in der Therapie der Anorexia nervosa sein. „Die Neoprenanzüge können Gesprächs- und Verhaltenstherapie zwar nicht ersetzen“, meint auch deren Erfinder Martin Grunwald. Doch auf der anderen Seite ist eine Therapie, welche die Körperwahrnehmung nicht mit einbezieht – davon sind er und Riess überzeugt –, bei Magersucht „völlig zwecklos“.