Mit den Händen sehen

© Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN

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An der Komischen Oper Berlin führt Yvonne Trawny Menschen mit jeder Art von Sehbehinderung hinter die Kulissen des Hauses. Ein in der Hautstadt bislang einmaliges Angebot.

„Zwei hohe Stufen“, flüstert Gerda Buchholz*, Mitte 60, kurze graue Haare, ihrer Freundin zu, „und rechts das Geländer.“ Buchholz hat die kleine Frau, Anne Fried, mit der bunten Bluse und der großen Brille fest untergehakt. Die greift jetzt zielsicher nach vorne und hält sich am Messinggeländer fest. Die 71-jährige Fried ist nicht blind, aber seit ihrer Kindheit fällt es ihr schwer, Gegenstände mit den Augen richtig zu fixieren.

Stufe für Stufe arbeitet sich das eingespielte Team die Treppe hinauf. „Das ist die siebte und letzte“, sagt Buchholz freudig. Freundin Fried nimmt die Stufe und lässt das Geländer los. Ein kurzes Innehalten. Dann betreten die beiden Hand in Hand das Foyer der Komischen Oper in Berlin. Irgendwo im Haus probt ein Streichquartett und begrüßt sie mit einem Stück von Johann Sebastian Bach.

Während Fried noch mit den Augen blinzelt, um sich an die Dunkelheit des Foyers zu gewöhnen, kommt auch schon Ivonne Trawny um die Ecke geschossen. Die 47-Jährige mit dem offenen Lächeln und den lässig nach hinten gesteckten Haaren leitet die Führungen durch das Opernhaus.

Ein offenes Haus für alle

Seit zwei Jahren bietet die Komische Oper auch Führungen für Blinde und Sehbehinderte an – als einziges Opernhaus in Berlin. In anderen Bundesländern gibt es zwar ähnliche Angebote, allerdings werden sie „meist nur unregelmäßig durchgeführt“, bedauert Paloma Rändel vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV).

Auch in der Komischen Oper fanden die Führungen anfangs nur auf Nachfrage statt – etwa für die Mitglieder des ABSV. Doch als sich die Anfragen häuften, beschlossen Ivonne Trawny und die Geschäftsführende Direktorin des Hauses, Susanne Moser, sie regelmäßig und öffentlich anzubieten. Mittlerweise sind die Spezialführungen ein fester Bestandteil des Programms.

Wie viele Blinde und Menschen mit Sehbehinderungen gibt es in Deutschland?

Nach Angaben des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) leben in ganz Deutschland etwa 150.00 blinde und 500.000 sehbehinderte Menschen. Bei den Zahlen handelt es sich allerdings um Schätzungen. Wer blind ist und wer eine Sehbehinderung hat, wird in Deutschland bislang nicht erfasst. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von einer deutlich höheren Anzahl von Betroffenen aus.

Den Gründervater der Komischen Oper, Walter Felsenstein, an dessen Büste die Gäste im Foyer vorbeischlendern, hätte das wohl gefreut. Mit dem Musiktheater revolutionierte der Intendant und Chefregisseur ab 1947 nicht nur die Kunstgattung Oper – er machte sie auch einem breiten Publikum zugänglich. Felsenstein ließ Stücke übersetzen und als Regisseur verordnete er nicht nur seinem „Don Giovanni“ erfolgreich Deutschunterricht. Ein offenes Haus für alle, das war sein Ziel.

Die Führungen für Blinde und Sehbehinderte folgen dem gleichen Konzept: Menschen, die die Aufführung nicht sehen können, sollen das Geschehen auf der Bühne mit anderen Sinnen erfahren – und zwar mit ihren Händen und Füßen. Wie fühlt sich eine Perücke aus Kunsthaar an? Was wiegen die Masken, die die Schauspieler bei „Orpheus” Reise in die Unterwelt tragen? Wie viele Schritte misst eigentlich die Bühne?

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Maximal zwölf Personen sind bei den speziellen Führungen zugelassen. Heute sind sie zu siebt. Die anderen, die neben Buchholz und Fried an dem Rundgang teilnehmen, sind: ein älteres Pärchen, beide Ende 60, Laura Mattes, eine kleine, zierliche Frau mit braunem Bubikopf und Blindenstock in der Hand, samt Begleiterin. Und Hanno Splittberger. Der Mitte 50-Jährige ist als einziger allein gekommen. Auf seinem Ausweis steht zwar das Wort „schwerbehindert“, aber Hanno meistert seinen Alltag weitestgehend ohne fremde Hilfe. Von Geburt an ist er stark kurzsichtig.

Blumendekor und pausbäckige Putten

Durch eine kleine Tür am Ende des Ganges betritt die Gruppe den großen neobarocken Opernsaal. Leiterin Trawny stellt sich vor die Bühne und wartet geduldig, bis alle bereit sind. „Der Raum ist mehr als 15 Meter hoch“, fängt sie an zu erklären, „an der Decke finden sich goldbelegte Stuckarbeiten und kleine pausbäckige Engelchen, sogenannte Putten. Der Kronleuchter in der Mitte des Saals besteht aus rund 2000 Glaskristallen.“

Frieds Pupillen flattern unruhig hin und her. Gerade auf größere Distanz fällt es ihr schwer, die Gegenstände ordentlich zu erkennen. Mattes hingegen hat die Augen geschlossen. Sie lächelt in Richtung Decke und ist vermutlich gerade dabei, sich den pompösen Saal in ihrer eigenen Vorstellung zusammenzusetzen. „Die Sitze sind mit rotem Samt überzogen“, vervollständigt Trawny das Bild. „Sie können sie ruhig anfassen“, sagt sie und tritt einen Schritt zur Seite.

Die gebürtige Kölnerin kam vor zehn Jahren an die Komische Oper – erst als Praktikantin, dann als Honorarkraft für Musiktheaterpädagogik. Als ihr Vorgänger schließlich in Rente ging, übernahm Trawny die Führungen und baute das bis dahin spärliche Programm auf eigene Faust aus. Bei ihr ging es nun nicht mehr nur auf die Bühne, sondern auch dahinter. Trawny erhielt eine Festanstellung. „Hätte ich die nicht bekommen“, sagt sie, „wären die Führungen für Blinde und Sehbehinderte gar nicht möglich gewesen.“

Ein halbes Jahr lang hat sich die gelernte Sozialpädagogin auf ihren ersten Rundgang vorbereitet. Sie holte sich Tipps von Selbsthilfeorganisationen, durchstöberte zahlreiche Blogs im Internet, sprach mit Betroffenen und achtete darauf, wie sie sich selbst mit geschlossenen Augen in einem Raum fühlt. Sie lernte, wie wichtig es ist, zur Orientierung eine Wand im Rücken zu haben und wie irritierend sich ein Wechsel des Bodenbelags anfühlen kann.

 

Kaum ein Detail lässt sie aus

„Kleine Stufe“, flüstert Buchholz ihrer Freundin Fried zu, „jetzt rechts rum, ein bisschen schräg um die Ecke, hohe Stufe“. Da der Gang nun etwas schmaler wird, geht sie ein paar Schritte vor und hakt Fried nur mit dem kleinen Finger unter. Trawny öffnet die nächste Tür, stellt sich in die Mitte des Zimmers und wartet, bis sich alle um sie herum versammelt haben.

„Jetzt sind wir in der Maske“, sagt sie und macht damit den Raum und seine Funktion für alle sichtbar. „An den Wänden stehen drei große Schminktische, darüber hängt eine Reihe von Spiegeln.“ Kaum ein Detail, das sie auslässt. Weder die Lippenstifte noch die Lockenwickler oder Pinsel, die sich auf den Tischen türmen. „Und zwischen den Fenstern hängt eine rosa Pelikan-Girlande, daneben ein bunter Esel aus Pappmaschee.“

Etwas zu „sehen“, bedeutet für die meisten in der Gruppe nicht nur zuzuhören und zu imaginieren, sondern auch, es anzufassen. Trawny drückt Fried vorsichtig eine Perücke in die Hand und die Tastreise beginnt. Behutsam fährt sie der Perücke durch die Haare, nimmt eine Strähne zwischen die Fingerspitzen und hält sie sich dicht vor die bebrillten Augen. „Die ist aus Echthaar“, erklärt Trawny, „merkt ihr, wie weich sie ist?“

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Als Hanno Splittgerber die Perücke in die Hand bekommt, zieht er sein Monokular hervor, ein Miniaturfernrohr, das die Dinge um ein Vielfaches vergrößert. Fachmännisch untersucht er das feinmaschige Netz, auf das die blonde Haarpracht geknüpft ist. „Darunter kommt man bestimmt ganz schön ins Schwitzen“, stellt er fest und gibt die Perücke zufrieden nickend weiter.

Welche Führungen bietet die Komische Oper Berlin noch an?

Neben den regulären Führungen und denen für Blinde und Sehbehinderte bietet die Komische Oper Berlin auf Nachfrage geschlossene Führungen an. Regelmäßig finden auch Rundgänge für Menschen mit psychischen Erkrankungen statt, etwa für Gruppen aus der Eingliederungshilfe oder aus einer Tagesklinik.

„Jeder sieht die Dinge auf seine eigene Art“

Das Highlight der Führung ist aber die „offene Wunde“, gefertigt aus einer Masse von Kaltschaum. Sie befindet sich eine Etage tiefer im sogenannten Gipsraum. „Solche Schürfwunden modellieren wir mit einem speziellen Gel“, erklärt Trawny und fügt mit einem Grinsen in der Stimme hinzu: „Übrigens lassen sich so auch Schusswunden gut herstellen.“

Mattes hört Trawny mit großer Spannung zu. Dabei fahren ihre Finger fast zärtlich die Linien der Verletzung nach. Als sie die leichte Erhebung in der Mitte spürt, entfährt ihr ein kleines „Hui!“. „Gruselig“, sagt sie und zieht ihre Hand schnell wieder zurück. Auch Fried muss sich erst mal schütteln, als sie sich der Wunde nähert. Intuitiv greift sie nach Buchholzs Arm.

Für Trawny sind die Führungen mit Blinden und Sehbehinderten immer wieder eine Herausforderung. „Die Menschen haben nicht nur unterschiedliche Beeinträchtigungen“, sagt sie, „jeder hat auch seine eigene Art, die Dinge zu sehen.“ Die einen können sich Räume und Gegenstände schon anhand weniger Details vorstellen und genießen es, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Andere wollen hingegen alles so genau wie möglich wissen.

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Sind Menschen dabei, die von Geburt an vollblind sind, muss Trawny zusätzlich darauf achten, Farben in Form von Temperaturempfindungen zu beschreiben. Denn wie das Rot eines „roten Teppichs“ aussieht, können sie sich logischerweise nicht vorstellen. Für sie will Trawny für das nächste Mal auch eine kleine Karte aus Pappe basteln, auf der die Teilnehmer die Form des Opernsaals und die Aufteilung der Sitzreihen nachfühlen können.

Nach zwei Stunden ist die Führung zu Ende. Bevor Trawny die Gruppe entlässt, dreht sie die Rollen jedoch um und wird selbst zur Fragenden. „Gibt es Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge?“, fragt sie ehrlich interessiert. „Wann gibt es die nächste Führung?“, fragt Hanno und zückt sein Notizbuch.

* Die Namen der Teilnehmer sind von der Redaktion geändert.