Multiple Sklerose: Schwangerschaft statt Medikamente

© picture alliance/JOKER

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Frauen mit Multipler Sklerose (MS) geht es während der Schwangerschaft oft plötzlich besser – manche scheinen in dieser Zeit sogar kurzfristig geheilt zu sein. Woran das liegt und wie sich dieses Phänomen in der Therapie der Autoimmunerkrankung nutzen lässt, wollen Forscher nun klären.

Ariane Tiege hat Multiple Sklerose. Die Diagnose erhielt die heute 28-Jährige vor gut fünf Jahren. Seitdem nimmt sie starke Medikamente und hat sie die typischen Symptome: Kribbeln in den Fingern, Taubheitsgefühle in Füßen, Oberschenkeln und Armen.

Vor einem Jahr hörte das auf. Das Kribbeln war ebenso verschwunden wie die anderen Symptome. „Ich fühlte mich super“, erinnert sich Tiege, „neun Monate und kein einziger Schub.“ Die junge Frau war schwanger.

„Dass die MS während der Schwangerschaft zurückgeht, ist keine Ausnahme“, erklärt Kerstin Hellwig, Oberärztin am St. Josef-Hospital in Bochum. Erforscht ist dieses Phänomen allerdings kaum. Über den Verlauf der Krankheit bei Schwangeren gibt es tatsächlich kaum repräsentative Daten. „Das liegt auch daran, dass den Patientinnen lange Zeit abgeraten wurde, eigene Kinder zu bekommen“, sagt Hellwig.

Multipler Sklerose in Zahlen

Nach Angaben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) sind weltweit rund 2,5 Millionen Menschen von MS betroffen. In Deutschland leben schätzungsweise 130.000 Menschen mit MS. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer. Festgestellt wird die Erkrankung meistens zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Manchmal tritt MS auch schon im Kindes- oder Jugendalter auf, wird dann aber nicht als solche erkannt. Erstdiagnosen nach dem 60. Lebensjahr sind selten.

Ein positiver „Nebeneffekt“?

Sicher ist bislang nur, dass nach den ersten drei Monaten der Schwangerschaft mehr als die Hälfte der Frauen schubfrei sind und dass die Krankheitssymptome stark nachlassen. Im letzten Drittel geht die Schubrate sogar um bis zu 80 Prozent zurück. „Das ist ein Effekt, den kaum ein Medikament erzielt“, sagt Hellwig, „und die, die es tun, haben meist starke Nebenwirkungen.“ Auch die Zeit des Stillens scheint sich positiv auf den Krankheitsverlauf auszuwirken.

„Während der Schwangerschaft verändert sich das Immunsystem der Frauen“, weiß Professor Stefan Gold, Leiter des Bereichs Neuropsychiatrie an der Berliner Charité. Dass sich die Schübe der MS-Patientinnen dermaßen stark reduzieren, hält er für einen positiven, evolutionsbedingten „Nebeneffekt“. „Die Schwangerschaft ähnelt im Grunde einer Organtransplantation“, erklärt Gold. Da das Kind nur zur Hälfte die genetischen Eigenschaften der Mutter trägt, nimmt ihr Körper den Fötus anfangs als „Fremdkörper“ wahr. Damit der Körper das Ungeborene nicht abstößt, muss sich ihr Immunsystem entsprechend verändern.

Wie genau sich das körpereigene Abwehrsystem während der Schwangerschaft umstellt und warum sich das so positiv auf die Multiple Sklerose auswirkt, können Mediziner bislang nicht sagen. Wissenschaftler der University of California in Los Angeles (UCLA) konnten zwar in einer Studie an nicht-schwangeren MS Patientinnen zeigen, dass die Gabe des Schwangerschaftshormons Östriol die Schubrate ebenfalls senkt. Mit dem Effekt der Schwangerschaft war die Wirkung jedoch nicht vergleichbar. Auch dem Körper durch die Anti-Baby-Pille einfach vorzugaukeln, dass er schwanger sei, hilft den Patienten nicht.

Die Schwangerschaft richtig planen

„Bislang wissen wir einfach noch viel zu wenig darüber, welche genauen Mechanismen im Immunsystem der Frau während der Schwangerschaft wirken“, erklärt Neurowissenschaftler Gold. Zusammen mit dem Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose (INIMS) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) haben er und sein Team daher eine groß angelegte Studie gestartet, in der das Immunsystem von MS Patientinnen und gesunden Frauen während der Schwangerschaft detailliert untersucht wird. Denn: „Sind diese Mechanismen erst mal entschlüsselt“, ist Gold überzeugt, „lassen sich auch bessere Medikamente gegen MS entwickeln“.

Hintergrund zur Studie

„Warum unterdrückt Schwangerschaft Schübe der Multiplen Sklerose?“ am UKE ist eine Einzelstudie der Klinischen Forschungsgruppe KFO 296 (orig. „Feto-maternal immune cross talk and its consequences for maternal and offspring’s health“). In der Forschungsgruppe sind Ärzte und Grundlagenforscher aus unterschiedlichen medizinischen Disziplinen zusammengeschlossen sind. Sie nutzt die Schwangerschaft als Modell, um Wege zur Prävention und Therapie von immunologischen Erkrankungen wie MS zu finden.

Währenddessen ist Oberärztin Hellwig fleißig dabei, Daten zu sammeln und das erste bundesweite Register für Schwangere mit MS (Multiple Sklerose und Kinderwunsch Register, DMSKW) aufzubauen. Ziel des Projektes ist es, den Verlauf der Schwangerschaft zu dokumentieren und dadurch die Therapie zu verbessern. „Bis die ersten Ergebnisse vorliegen, ist es jedoch wichtig, dass die Frauen ihre Schwangerschaft gut planen“, betont Hellwig, „und ihren Kinderwunsch rechtzeitig mit ihrem Arzt besprechen.“ Denn werden Frauen mit Multipler Sklerose unbemerkt schwanger und nehmen ihre Medikamente weiter ein, steigt das Risiko, dass das Kind mit einer Fehlbildung zur Welt kommt.

Ariane Tiege hat ihren Kinderwunsch frühzeitig mit ihrem Neurologen besprochen. Am Ende verlief alles ganz normal – nahezu „langweilig“. Nach der Entbindung kehrten die Schübe dann langsam zurück. Auch das Kribbeln ist seit einigen Monaten wieder da. Als sie von Hellwigs Register hörte, musste Tiege nicht lange überlegen: Sie meldete sich bei der Bochumer Klinik und stellte dem Projekt ihre Daten zur Verfügung.