„Schmerzen gehören beim Ballett dazu“

„Onegin“ © Foto: Enrico Nawrath

Nadja Saidakova ist erste Solotänzerin beim Staatsballett Berlin. Mit sechs Jahren fing sie an zu tanzen. Als Ballerina stand sie fast ihr gesamtes Leben auf der Bühne. Am 19. Mai gibt sie ihre Abschiedsvorstellung. Im Interview erzählt Saidakova, warum sie aufhört, was Ballett für den Körper bedeutet und wie sie gesunde von ungesunden Schmerzen unterscheidet.

Redaktion: Wie oft trainieren Sie in der Woche?

Nadja Saidakova: Wenn es hoch kommt fünf Tage die Woche, acht Stunden am Tag.

Wie halten Sie das körperlich durch?

Ich haben mich daran gewöhnt – im Gegensatz zu meinen Spitzenschuhen. Die sind nach solch einer Woche meist weichgetanzt, das heißt sie geben meinen Füßen nicht mehr ausreichend Stabilität. Als ich noch fast ausschließlich klassische Stücke wie Schwanensee oder Giselle tanzte, brauchte ich fast jeden Tag ein neues Paar.

Spätestens seit dem Hollywoodfilm „Black Swan“ verbinden viele Ballett mit unglaublichen Strapazen, Besessenheit, Konkurrenzdruck und Einsamkeit. Ist das tatsächlich so?

Die Konkurrenz ist hart, das stimmt. Aber sie ist nicht bösartig. Wenn man jung ist, will man es nach oben schaffen. Dafür braucht es Leidenschaft, vielleicht auch ein bisschen Besessenheit. Das Privatleben kommt dabei zwangsläufig zu kurz. Und ja, oft fühlt man sich auch einsam.

Überlastung als Dauerzustand

Was meinen Sie mit „es nach oben schaffen“?

Raus aus dem Corps de ballet und ab ins Solo. Dann weiter zur Hauptrolle. Klappt das nicht, ist die Frustration groß. Bei mir ging es glücklicherweise recht schnell. Nach meiner Ausbildung in Perm ging ich nach Moskau, stand als Teil des Corps de ballet auf der Bühne und bekam meine ersten kleinen Auftritte als Solistin. Zwei Jahre später, also mit 19, ging ich nach Deutschland. Das war 1991.

Zur Person

Nadja Saidakova wurde 1971 im russischen Ischewsk geboren. Mit sechs Jahren nahm sie ihre ersten Ballettstunden, besuchte die staatliche Ballettakademie in Perm. Nach ihrem Abschluss zog sie nach Moskau und tanzte beim Klassischen Ballett Moskau. Im Jahr 1991 folgte ein Engagement beim Ballett der Deutschen Oper am Rhein (Düsseldorf/Duisburg). Seit 1995 ist Saidakova erste Solotänzerin beim Ballett der Staatsoper unter den Linden, das 2004 Teil des Staatsballetts Berlin wurde. Seit 2005 choreographiert sie auch selbst unter anderem in „Shut up and Dance!“.

Wie war es für Sie, Heimat und Familie zu verlassen?

Mit neun Jahren kam ich fürs professionelle Ballett aufs Internat und sah meine Eltern nur in den Ferien. Ich war also schon früh daran gewöhnt, mich um mich selbst zu kümmern. Die ersten Jahre in Deutschland waren natürlich trotzdem hart. Ich sprach ja nicht mal deutsch und beim Training mussten wir immer 100 Prozent geben – auch wenn wir Schmerzen hatten.

Wie hielten Sie diesem Druck stand?

Gar nicht. Ich erlitt meine erste Stressfraktur.

Das ist ein Ermüdungsbruch, der durch Überbelastung entsteht.

Genau – und er kündigt sich in der Regel an. Bevor der Knochen bricht, entstehen mikroskopisch kleine Risse. Mein Fuß tat also weh, dennoch trainierte ich weiter. Dann brach der Knochen, ich bekam einen Gipsverband, dazu ein paar Krücken und musste pausieren. In dieser Zeit fühlte ich mich unglaublich einsam. Von einem Tag auf den anderen hatte ich meine gesamte Tagesstruktur verloren, hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, fiel in ein Loch.

„Shut up and dance!“ © Foto: Oliver Schmidt

Was geschah dann?

Ich entwickelte eine Essstörung. An einem Tag nahm ich nichts zu mir außer Wasser, dann wieder stopfte ich mich voll. Ich nahm zu, ich nahm ab, befand mich in einem Teufelskreis – und ich schämte mich. Irgendwann sah ich ein, dass es so nicht mehr weitergeht und ging zum Arzt.

„Wenn du als Ballerina keine Schmerzen spürst, bist du tot“

Die essgestörte Ballerina ist also kein Klischee.

Nein. Mein Fall ist vielleicht extrem. Über die Jahre habe ich jedoch viele junge Tänzerinnen gesehen, die mit der Zeit immer und immer weniger aßen. Doch auch, wenn sie keine Essstörung entwickeln: Ballett verändert das Verhältnis zum Essen – und zwar zwangsläufig.

Wie meinen Sie das?

Auf sein Gewicht zu achten, ist Teil des Jobs. Wenn ich in zwei Wochen halb nackt auf der Bühne tanze, muss ich auf meine Figur achten. Selbst wenn ich sechs Wochen Urlaub habe, kann ich mich da nicht gehen lassen, sondern weiß: Danach muss ich wieder fit sein. Dieser Job ist eine sehr große Belastung für Körper und Psyche. Ich kann mich tatsächlich kaum daran erinnern, wann ich das letzte Mal ohne Muskelkater oder Hüftschmerzen aufgestanden bin.

Die russische Tänzerin Maya Plisetskaya hat einmal gesagt: „Wenn du als Ballerina keine Schmerzen spürst, bist du tot.“

Das ist natürlich übertrieben, aber irgendwie hat sie damit auch recht. Selbst die Form der Spitzenschuhe passt nicht zu der Anatomie der Füße. Mein zweiter Zeh ist heute tatsächlich ein gutes Stück länger als der große. Als ich die Schuhe mit zehn Jahren das erste Mal anzog, taten meine Füße auch ziemlich weh. Mit der Zeit gewöhnte ich mich jedoch an den Schmerz. Mittlerweile finde ich die Schuhe bequem. Was ein Körper alles aushält, ist schon erschreckend.

Haben Sie ein Beispiel?

Bei einer Hauptbühnenprobe rutschte ich aus, fiel hin und verletzte mich an der Schulter. Trotzdem tanzte ich das Stück zu Ende. Auch danach trainierte ich weiter. Als es nach zwei Wochen nicht besser wurde, ging ich zum Arzt. Der machte ein Röntgenbild und fragte mich entsetzt: „Wie konnten Sie damit tanzen?“ Mein Schultergelenk war komplett gerissen. Das Einzige, was es noch hielt, waren meine Muskeln. Ich kam sofort ins Krankenhaus und wurde operiert. Mittlerweile habe ich gelernt, den gesunden vom ungesunden Schmerz zu unterscheiden.

„The concert“ © Foto: Enrico Nawrath

Was heißt das?

Da ist zum einen der muskuläre Schmerz. Er signalisiert mir, dass ich mich hier in einem Grenzbereich bewege. Der gehört dazu. Es gibt jedoch auch den Schmerz, der mich vor einer drohenden Verletzung oder Entzündung warnt. Den kann ich nicht einfach wegmassieren, den muss ich ernst nehmen. Selbst Hühneraugen brauchen Ruhe, um abzuheilen.

Unvergleichliche Glücksgefühle und Adrenalinschübe

Sie sind jetzt 45 und tanzen seit 28 Jahren professionell Ballett. Am 19. Mai geben Sie Ihre letzte Vorstellung. Warum hören Sie erst jetzt auf?

Ich tanze ja schon heute nicht mehr so viel wie früher – und irgendwann musste auch ich mir eingestehen, dass es jetzt reicht. Vieles, was ich noch vor zehn Jahren konnte, geht nicht mehr – etwa die Sprünge. Die machen meine Gelenke nicht mehr mit. Ich brauche heute auch viel länger, bis mein Körper wirklich warmtrainiert ist. Doch nur weil ich als erste Solistin aufhöre, heißt das nicht, dass ich aufhöre zu tanzen. Seit einigen Jahren choreographiere ich selbst. Dafür habe ich jetzt mehr Zeit.

Bereuen Sie es manchmal, dem Ballett so viel geopfert zu haben?

Nein. Ballett ist zwar harte Arbeit, aber die Entscheidung zu tanzen, habe ich nie bereut. Ballett ist eine unglaublich schöne Kunst. Die Glücksgefühle bei den Auftritten, das Adrenalin, das einen dabei durchströmt, sind mit nichts vergleichbar.

Sie haben zwei Kinder. Tanzen die beiden auch Ballett?

Mein älterer Sohn schwimmt. Der Kleine ist nicht mal zwei Jahre alt. Mal sehen, was er später machen wird. Hauptsache, es macht ihm Spaß.