„Selbst bei hoher Motivation fehlt oft das Fachwissen“

© Private Universität Witten/Herdecke

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Seit gut sieben Jahren werden Pflegeheime vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) nach festgelegten Kriterien geprüft und bewertet. Was das bringt und worauf man bei der Wahl der Einrichtung achten sollte, darüber sprachen wir mit der Pflegewissenschaftlerin Angelika Zegelin.
 

Redaktion: Der MDK bewertet jedes Pflegeheim mit einer Art Schulnote. Ist das für Menschen, die ein Pflegeheim suchen, eine gute Orientierung?

Angelika Zegelin: Das ist allenfalls ein Fingerzeig. Nach meiner Erfahrung kann eine Einrichtung mit 1,1 abschneiden und trotzdem schrecklich sein. Pflege sollte sich an den individuellen Bedürfnissen der Heimbewohner orientieren und fachlich gut sein. Schlechte Pflege lässt sich nicht mit einer guten Vorsuppe oder einem schönen Garten ausgleichen. Die Qualitätsberichte, die hinter den Noten stehen, sind allerdings nicht ganz überflüssig. Die sind zwar auch geschönt, geben mir aber einen ersten Eindruck.

Wie bekomme ich einen authentischen Eindruck von einem Heim?

Indem ich es mir vor Ort anschaue – und das am Besten mehrmals.

Worauf muss ich speziell achten?

Auf genau das, was Ihnen im Leben auch sonst wichtig ist. Wie begegnen mir die Mitarbeiter und die Bewohner, wie die Leitung? Wie sehen die Zimmer aus? Wie hält das Heim es mit dem Essen – wird frisch gekocht oder gibt es nur Convenience? Ist die Einrichtung an andere Seniorenheime oder vielleicht sogar an eine Kita angebunden? Fühle ich mich hier wohl?

Zur Person

Angelika Zegelin ist gelernte Krankenschwester und hat maßgeblich zur Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland beigetragen. Im Jahr 2004 promovierte sie zu dem Thema Bettlägerigkeit (Titel: „’Festgenagelt sein’. Der Prozess des Bettlägerigwerdens”). Für ihre Leistungen in der Pflegewissenschaft wurde ihr 2009 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Seit 2015 ist Zegelin im Ruhestand.

Hohe Motivation der Pflegekräfte ist wichtig, aber nicht ausreichend

Gibt es Warnzeichen?

Ja. Etwa wenn die Pläne der sozialen Betreuung bereits monatelang im Voraus festliegen, wenn diese sich auf Basteln, Singen und Gedächtnistraining beschränken oder wenn es keinen Raum für spontane Aktivitäten gibt. Wichtig und hilfreich sind kleine Ausflüge, das Rausgehen in den Garten, Tanztees – überhaupt Bewegungsangebote. Auch wenn ein Großteil der Bewohner im Rollstuhl sitzt, macht das keinen guten Eindruck.

Wieso das?

In der Regel gibt es dafür keinen medizinischen Grund. Das heißt, die meisten Bewohner können noch laufen, nur nimmt sich keiner die Zeit, sie dabei zu begleiten. Werden die Bewohner dann lange genug herumgeschoben, können sie bald wirklich nicht mehr alleine gehen.

Was zeichnet gute Pflege aus?

Dass die Pflegekräfte den einzelnen Bewohner als Menschen wahrnehmen und nicht als Nummer 124. Pflege muss körperliche und seelische Schäden verhindern. Tatsächlich bekommen viele Menschen im Heim Druckgeschwüre. Auch Fixierungen finden in Deutschland nach wie vor viel zu häufig statt. Dabei gibt es mittlerweile sinnvolle Alternativkonzepte. Das Problem ist nur, dass Pflegeheime chronisch unterbesetzt sind – auch die guten. Für Fortbildung ist da kaum Zeit.

Kann ich nicht voraussetzen, dass qualifiziertes Pflegepersonal eingesetzt wird?

Nein. In Heimen wird viel mit Hilfskräften gearbeitet. Selbst bei hoher Motivation fehlt es in solchen Fällen an Fachwissen und Erfahrung. Wichtig ist auch die Frage, wie viele Fachkräfte für wie viele Bewohner zuständig sind – nicht nur tagsüber, sondern auch nachts.

Die Betroffenen müssen Eigenverantwortung übernehmen

Woran erkenne ich, ob das Personal des Heims über die notwendigen Qualifikationen verfügt?

Fragen Sie nach Pflegerinnen und Pflegern, die sich mit Demenz auskennen oder danach, ob es in der Einrichtung Fachleute für Schmerztherapie, Inkontinenz- oder Wundversorgung gibt. Ein anderer Punkt: Wie sieht es mit der Palliativversorgung aus? Verfügt die Einrichtung über keine eigene Kompetenz, sollte sie zumindest an ein Hospiz angebunden sein. Kaum jemand möchte an seinem Lebensende noch einmal umziehen.

Checkliste für die Pflegeheimauswahl

Download (PDF, 1.86MB)

In vielen Familien kommt der Pflegefall plötzlich. Für sorgfältiges Auswählen haben da viele keine Zeit.

Das stimmt so nicht. Die wenigsten Menschen brauchen von heute auf morgen eine 24-Stunden-Betreuung. Das Problem ist, dass sich kaum jemand frühzeitig damit beschäftigt. In der Regel sind es Angehörige, die sich die Einrichtungen anschauen – nur müssen die dort am Ende nicht leben. Auch deshalb verändert sich so wenig.

Wie meinen Sie das?

Würden wir uns mit dem Thema Pflege rechtzeitig auseinandersetzen – also diejenigen, die es betrifft – und uns Zeit nehmen, in Frage kommende Einrichtungen wirklich besser kennenzulernen, blieben die Heime leer, in denen die Bewohner den ganzen Tag nur in der Ecke rumsitzen.

Das klingt ziemlich pessimistisch.

Das soll es gar nicht. Ich will auch nicht alle Heime schlechtreden. Tatsächlich gibt es viele gute Einrichtungen. Wichtig ist, dass wir Eigenverantwortung übernehmen. Setzen wir uns rechtzeitig mit dem Thema auseinander, haben wir am Ende auch die Wahl. Übrigens: Gefällt mir das Heim am Ende doch nicht, kann ich da auch wieder ausziehen.