Therapie unter Strom

Therapie unter Strom

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Rund vier Millionen Menschen werden in Deutschland wegen ihrer Depressionen mit Antidepressiva behandelt oder machen eine Psychotherapie. Dabei gibt es immer wieder Betroffene, bei denen keine dieser Behandlungsmethoden wirkt. Richtig angewendet kann die sogenannte Elektrokrampftherapie helfen – trotz ihres teils schlechten Rufs.

Mit 19 Jahren versuchte Sylvia Plath, die später als Schriftstellerin bekannt werden wird, zum ersten Mal, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebte und wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Zur Behandlung banden die Ärzte die junge Frau mit Lederriemen auf einen Tisch und befestigen Elektroden an ihrem Kopf. Dann, ohne Vorwarnung oder Betäubung, legte jemand den Hebel um und 450 Volt jagten durch ihr Gehirn. Später wird Plath die Elektroschocktherapie auch als Exekution beschreiben.

Das war im Sommer 1951. Lange her, möchte man sagen. Eine andere Zeit, in der Frauen noch hinterm Herd standen und die Krankheit Depression als Schwermut oder Störung der Persönlichkeit abgetan wurde. Und doch gibt es die Behandlung mit den Stromimpulsen auch heute noch. Dazu haben sich Beschreibungen wie die von Sylvia Plath in unser Gedächtnis eingebrannt.

Sylvia Plath © picture alliance/Everett Collection

Sylvia Plath © picture alliance/Everett Collection

Für viele Patienten ist die EKT-Behandlung ein Lichtblick

Dabei stellte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer bereits 2003 fest: „Für bestimmte psychiatrische Erkrankungen ist die Elektrokrampftherapie die bestmögliche Behandlung.“ Und weiter: „Die immer wieder gezielt in die Öffentlichkeit getragene Darstellung der Elektrokrampftherapie als veraltete, überholte oder gar inhumane und grausame Behandlungsmethode ist falsch und beruht weitgehend auf einer mangelhaften Information.“

Dieser Ansicht ist auch Michael Grözinger, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Uniklinik RWTH Aachen. Seit gut 30 Jahren wendet Grözinger, der auch Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ist, die Elektrokrampftherapie (EKT) an. Pro Woche werden in seiner Abteilung etwa 20 solcher Behandlungen durchgeführt.

Einer seiner Patienten ist Michael Renner*. Er ist 32 Jahre alt und leidet seit gut zehn Jahren an schweren Depressionen. Keines der verordneten Medikamente schlug an und auch sein Psychotherapeut konnte ihm nicht helfen. „Als mein Psychiater mir von der EKT erzählte“, erinnert sich Renner, „war ich anfangs schon etwas skeptisch.“ Mehr als den Strom fürchtete der junge Mann jedoch, die Depressionen nie wieder loszuwerden. Sein Studium hatte er bereits abbrechen müssen – mehr wollte er der Depression nicht opfern. Also entschied Renner, es mit der Behandlung zu versuchen.

Dass Patienten wie Sylvia Plath gegen ihren Willen behandelt werden, kommt heute kaum mehr vor. Tatsächlich reagieren die meisten Patienten, denen Oberarzt Grözinger zu der Therapie rät, äußerst positiv auf den Vorschlag. „Für Menschen, die seit einem halben Jahr oder länger unter schweren Depressionen leiden, kaum noch essen, nicht mehr aufstehen können, und bei denen weder Antidepressiva noch Psychotherapie helfen“, erklärt Grözinger, „ist die Aussicht, dass es ihnen durch die EKT besser gehen könnte ein Lichtblick.“

Stromimpulse stimulieren die Bildung neuer Nervenzellen

Die Erfolgschancen sind extrem gut. Das bestätigen nicht nur Grözingers persönliche Erfahrungen, sondern auch zahlreiche Studien. Laut einer Metaanalyse der University of Oxford, aus dem Jahr 2003, half die Elektrokrampftherapie zwischen 50 und 70 Prozent der Betroffenen, den Depressionskreislauf, in dem sie gefangen waren zu durchbrechen. Angewandt wird die Methode in der Regel bei Menschen mit schweren Depressionen. Aber auch Patienten mit schizophrenen Psychosen kann die Behandlung nachweislich helfen.

Wann und wie oft werden Patienten mit der EKT behandelt?

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sollten „Patienten mit depressiven Episoden spätestens nach zwei erfolglosen standardgemäßen Behandlungen mit Antidepressiva und Psychotherapie über die Möglichkeit einer EKT aufgeklärt werden.“ Eine EKT-Behandlung besteht in der Regel aus acht bis zwölf Sitzungen, die in einem Abstand von zwei bis drei Tagen stattfinden. Der therapeutisch ausgelöste Anfall dauert zwischen 30 und 60 Sekunden, nach etwa 15 Minuten ist die Behandlung vorbei.

Gut die Hälfte der psychiatrischen Kliniken in Deutschland nutzen mittlerweile die Behandlungsoption EKT – Tendenz steigend. Auch Professor Malek Bajbouj vom Charité Centrum Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie in Berlin bezeichnet die Methode „insbesondere für therapieresistente Depressionen“ als „ein hochwirksames Verfahren.“

Mit der Behandlung von einst hat die Methode heute nur noch wenig gemein: Patienten bekommen im Vorfeld muskelentspannende Medikamente, die Behandlung selbst erfolgt unter Narkose. Anders als der Name „Krampftherapie“ suggeriert, lösen die Stromimpulse keine Muskelzuckungen mehr aus. Grözinger spricht deshalb auch nicht mehr von Elektrokrampf-, sondern von Elektrokonvulsionstherapie. Eine Bezeichnung, die auch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) seit Anfang 2017 offiziell vorgibt.

Prof. Dr. Michael Grözinger © privat

Prof. Dr. Michael Grözinger © privat

Der Wirkmechanismus der Methode ist bis heute nur teilweise bekannt. Was feststeht, ist, dass viele Menschen mit psychischen Erkrankungen in bestimmten Bereichen ihres Gehirns weniger Nervengewebe haben – eine Tatsache, die auch bei Menschen mit Depressionen auffällt. „Der durch die Stromimpulse ausgelöste Anfall stimuliert die Nervenzellen und soll dabei helfen neues Hirngewebe zu bilden“, erklärt Grözinger. Dazu konnten Forscher beobachten, dass die EKT die Ausschüttung von Botenstoffen wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin anregt, die die Stimmung der Betroffenen – ähnlich wie Antidepressiva – nachweislich aufhellen.

Nebenwirkungen: Gedächtnislücken und Kopfschmerzen

Ein Wunderheilmittel ist die EKT aber auch nicht, wissen Grözinger und Bajbouj. Damit die Behandlung nachhaltig wirkt, müssen die Patienten im Nachgang psychotherapeutisch begleitet und die Therapie medikamentös unterstützt werden. Dazu kommen sogenannten EKT-Auffrischungsbehandlungen. Passiert das nicht, erleidet gut die Hälfte der Patienten nach mindestens sechs Monaten einen Rückfall.

Und wie bei der Behandlung mit Psychopharmaka treten auch bei der EKT Nebenwirkungen auf. So kann die Therapie vorübergehend etwa den Herzschlag beschleunigen oder den Blutdruck in die Höhe treiben. Ältere Patienten mit Herz-Rhythmus-Störungen werden deshalb vorher medikamentös gut eingestellt. Dazu kommen häufig vorübergehende Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Übelkeit. Hauptnebenwirkung sind leichte Gedächtnisstörungen.

Auch Renner kann sich nach den EKT-Behandlungen oft nicht mehr an einzelne Gespräche vom Vortag erinnern. Das findet der 32-Jährige allerdings nicht so schlimm. Gegen die Kopfschmerzen bekommt er im Vorfeld ein Schmerzmittel gespritzt. Schade findet Renner allerdings, dass die Elektrokonvulsionstherapie von vielen Menschen nach wie vor als „Schreckgespenst“ angesehen wird. Wenn er Bekannten von der Behandlung erzählt, zucken die meisten erst einmal zusammen.

Die EKT-Behandlung gehört auf den Lehrplan

Auch den psychiatrischen Oberarzt Grözinger stört dieser schlechte Ruf sehr. Allerdings wurden im Jahr 2008 in Deutschland gerade einmal 0,05 Prozent der Patienten mit Depression mit EKTs behandelt. Eine flächendeckende Aufklärung hält er daher für weniger hilfreich als die des ärztlichen Fachpersonals.

Kann ein Patient gegen seinen Willen mit der Elektrokonvulsionstherapie behandelt werden?

Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten können sein gesetzlicher Betreuer und/oder das Gericht die Behandlung auch gegen den Willen des Betroffenen anordnen – ebenso wie bei medikamentösen Therapien. Die Verhältnismäßigkeit der Behandlung muss in solchen Situationen stets geprüft werden. Einwilligungsfähig ist laut Bundesgerichtshof (BGH, 16.11.1971, Az.: VI ZR 76/70), wer Art, Bedeutung und Tragweite (Risiken) der ärztlichen Maßnahme erfassen kann. Ob ein Mensch einwilligungsfähig ist, wird steht im Einzelfall geprüft.

Ein Problem ist Grözingers Einschätzung nach, dass die Methode in der Ausbildung von Ärzten zu wenig, wenn nicht gar überhaupt nicht vorkommt. Viele Fachärzte kennen die Elektrokonvulsionstherapien daher nur vom Hörensagen, sind mit ihrer Anwendung wenig vertraut und versäumen daher, ihre Patienten rechtzeitig über die Therapieoption aufzuklären. An seiner Klinik sorgt Grözinger deshalb dafür, dass Studenten, die bei ihm ein Praktikum absolvieren, auch mindestens ein mal bei einer EKT-Sitzung dabei sind.

„Denn wer mit eigenen Augen sieht, wie viel besser es den Betroffenen durch die Behandlung geht“, so Grözinger, „dem bleiben am Ende nur noch wenige Vorbehalte.“

*Name ist von der Redaktion verändert. 

Anfänge der Elektrokonvulsionstherapie (EKT)

Die Elektrokonvulsionstherapie – die damals noch als Elektroschocktherapie bezeichnet wurde – wurde erstmals 1938 in Rom von dem italienischen Psychiater Ugo Cerletti und seinem Assistenten Lucio Bini an einem Patienten eingesetzt. Vorgänger der Methode war die sogenannte „pharmakologische Krampftherapie“, bei der den Patienten Kampfer, später Pentetrazol injiziert wurde. Da die medikamentöse Methode schwer zu steuern war und oft erhebliche Nebenwirkungen verursachte – sie löste unter anderem schwere Angstzustände aus – konnte sich Cerlettis elektrisches Verfahren rasch durchsetzen. In Deutschland wurde die erste Elektroschockbehandlung 1939 in Erlangen durchgeführt. Heute erfolgt die EKT unter Kurznarkose; die Patienten bekommen im Vorfeld muskelentspannende Medikamente.