Zwangsstörungen lassen sich gut behandeln

© picture alliance/Bildagentur-online

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Was wir gerne als „Spleen“, als eine leichte Verrücktheit umschreiben, kann für die Betroffenen schwerwiegende Folgen haben. Einer Therapie stehen oft Scham und Unwissen der Betroffenen im Weg, aber auch ein Mangel an engagierten Therapeuten.

„Ich bleibe fünf Meter vor der Tür stehen“, schreibt Pelle Sandstrak in seiner Autobiografie, „ich schaue auf einen Punkt, hebe das Bein im Winkel von 45 Grad an und fange an, auf die Tür zuzugehen.“ An guten Tagen braucht der junge Mann 20 Minuten, um eine Türschwelle zu überqueren. An schlechten Tagen mehrere Stunden. Er war unfähig, zur Arbeit zu gehen und galt als schwerbehindert.

Wie Sandstrak leiden in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen unter mehr oder weniger schweren Zwangsstörungen. Zwänge sind übertriebene Kontrollhandlungen, ritualisierte Bewegungsabläufe, von denen die Betroffenen nicht abweichen können. Ständiges Händewaschen, das Sammeln und Horten von Gegenständen können genauso in die Kategorie Zwang fallen wie das Ritual zum Überqueren einer Türschwelle. Auch immer wiederkehrende Gedanken, wie die ständige Angst etwas nicht richtig gemacht zu haben oder das Zählen von Pflastersteinen, können zwanghaft werden.

Sandstrak wuchs Mitte der 1980er Jahre in Schweden auf. Was Zwangsstörungen sind und wie man sie behandelt, wussten damals nur Experten. Folglich blieb Sandstrak mit seiner Krankheit auf sich allein gestellt. Er schämte sich für sein Verhalten und versuchte, seine Zwänge und Rituale zu verbergen. Von Freunden und Familie zog er sich immer mehr zurück.

Falsch oder gar nicht diagnostiziert

Heute, gut 30 Jahre später, wissen Ärzte und Psychologen, wie Zwangsstörungen funktionieren und wie sie sich behandeln lassen. Allerdings gehen die meisten Erkrankten nach wie vor erst dann zum Arzt, „wenn es nicht mehr anders geht“, sagt Wolf Hartmann von der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (DGZ). Mitunter dauert es Jahrzehnte, bis die Betroffenen es schaffen, sich professionelle Hilfe zu suchen.

„Statt zum Psychologen“, meint Hartmann, „gehen die Menschen mit ihren rotgewaschenen Händen zum Hautarzt.“ Die Folge: Die Krankheit wird oft falsch, zu spät oder gar nicht diagnostiziert. Die Zwänge verschlimmern sich und sind immer schwerer zu behandeln.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat deshalb im vergangenen Jahr eine neue Leitlinie zur Behandlung von Zwangsstörungen herausgegeben. Sie bündelt das aktuelle Forschungswissen, richtet sich dabei aber nicht nur an Ärzte, sondern auch an Betroffene und deren Angehörige. „Auch sie“, findet Wolf Hartmann, der selbst an den Empfehlungen mitgearbeitet hat, „sollen sich stärker am Behandlungsprozess beteiligen.“

© Bastei Lübbe
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“Herr Tourette und ich”

Die Autobiografie von Pelle Sandstrak ist 2009 in der Verlagsgruppe Lübbe erschienen. Das Tourette-Syndrom ist eine neurologische Erkrankung, die häufig von Zwangsstörungen begleitet wird.

Zur Behandlung von Zwangsstörungen empfiehlt die Leitlinie eine kognitive Verhaltenstherapie. „Sind die Therapeuten richtig ausgebildet“, sagt Lydia Fehm vom Zentrum für Psychotherapie der Humboldt-Universität zu Berlin (ZPHU), „wirkt die Behandlung gut.“

Für Verhaltenstherapeuten unattraktiv

Es gibt nur ein Problem: „Den meisten Therapeuten fehlt entweder das notwendige Spezialwissen“, meint Hartmann, „oder sie haben auf die Behandlung keine Lust.“ Tatsächlich ist eine Zwangsstörung in der Regel sehr viel aufwendiger zu behandeln als etwa eine Angststörung. Oft findet die Therapie nicht im geschützten Raum der Praxis statt. Stattdessen müssen Patient und Therapeut gemeinsam raus und im „echten“ Leben einüben, sich der belastenden Situation zu stellen. Dafür zahlen die Kassen aber nicht angemessen.

Psychotherapeuten, die dennoch eine entsprechende Behandlung anbieten, haben lange Wartelisten. So landen viele Betroffene stattdessen beim Psychiater und bekommen Pillen. „Zur Überbrückung ist das auch in Ordnung“, meint Psychologin Fehm, „aber da eine Psychotherapie die Methode der ersten Wahl ist, sollte darauf nicht verzichtet werden.“

So werden gute Heilungschancen vertan. Tatsächlich werden zwei von drei Patienten mithilfe einer Verhaltenstherapie geheilt. Auch Pelle Sandstrak schaffte es so, seine Zwänge zu überwinden. Heute kommt er ohne seinen Schwerbehindertenausweis aus – Sandstrak hat eine Familie gegründet und führt ein normales Leben.