„9 Dinge, die ich auf einem Sexualmedizinerkongress gelernt habe“

„9 Dinge, die ich auf einem Sexualmedizinerkongress gelernt habe“

Foto: picture alliance/Bildagentur-online

Im November 2017 hat die Journalistin und Bloggerin Theresa Lachner einen Sexualmedizinerkongress in Wien besucht. Uns erzählt sie, was sie aus den Vorträgen der Wissenschaftler mitgenommen hat.

Ich bin Journalistin geworden, weil ich chronisch neugierig bin, weil es mir Spaß macht, zu schauen was die anderen so machen, weil ich es liebe, mich in komische neue Situationen zu begeben und zu schauen, was die mit mir so machen. Ich schreibe seit über acht Jahren über Sex, weil es für mich kein zweites Thema gibt, das so viel Entdeckungspotenzial bietet und an dem sich die oft mehr oder weniger willkürlichen Ideen unserer Gesellschaft besser beobachten lassen.

Als studierte Geisteswissenschaftlerin finde ich tatsächlich vieles spannend und deswegen dachte ich mir auch beim Kongress Sexualmedizin Interdisziplinär sofort „Hallo, hin da!“ und verbrachte freiwillig mein Wochenende in einem 80er-Jahre-Krankenhaushörsaal ohne Fenster.

Ich konnte nicht sämtlichen der straff getakteten 15-Minuten-Talks komplett folgen. Meine Notizen sind daher eher als Unterhaltung denn als medizinische Beratung zu verstehen – auch weil ich keine Zeit hatte, die Studien und genannten Zahlen persönlich nachzurecherchieren. So without further ado, hier ein paar Sexualmediziner-Weisheiten!


1. Sexualität ist ein Menschenrecht.

Klingt erst mal logisch, aber ich bitte um einen Moment andächtiger Kontemplation, in dem ihr euch noch mal die wunderbare Definition der WHO, die auch dieser Kongress zur Grundlage nahm, auf der Zunge zergehen lasst:

„Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden. Es bleibt noch viel zu tun um sicherzustellen, dass Gesundheitspolitik und -praxis dies anerkennen und widerspiegeln.“

2. Nachhaltigkeit im Bett

Was ich vor diesem Wochenende auch noch nicht wusste: Die Spermaflüssigkeit des Mannes legt beim ersten Sexualkontakt (ohne Kondom) eine Art Blaupause an, ein „immunologischer Tsunami“, wie das der ergriffene Wissenschaftler auch nennt. Das Ziel dieser Blaupause: den Körper auf eine potentielle Schwangerschaft vorzubereiten.

3. Genetische Fitness

Ein Thema, das in den nächsten Jahren sicherlich noch brisant werden wird: genetische Fitness. Die meisten Frauen, so die Wissenschaftler, überschätzen die Dauer ihrer fruchtbaren Phase. Proaktiv frisch ans Werk konnte man direkt vor dem Hörsaal Blut abzapfen und seinen AMH-Wert messen lassen. Dieser teilte einem sodann mit, wie lange man sich noch in puncto Vereinbarkeit von Familie und Karriere entspannen kann und die nervigen Fragen der Verwandtschaft à la „Hättest du langsam nicht auch mal Lust auf was Kleines?“ ignorieren darf. Ratet mal, wer das direkt gemacht hat?

Gee-nau: ich. Die Laborergebnisse kommen irgendwann nächste Woche, bis dahin überlege ich mir noch, ob ich den Umschlag aufmache.

Spannend an diesem Vortrag, wie auch an dem nächsten über „alte Gebärende“ fand ich vor allem das, was mal wieder mit keinem Wort erwähnt wurde – nämlich, dass Fertilität keinesfalls nur ein „Frauenproblem“ ist und die männliche biologische Uhr exakt genauso laut tickt. An der lässt sich aber vielleicht nicht ganz so gut schnippeln, vermessen und kritisieren wie an der weiblichen.

4. Tabuisierung von Sexualität

Von einem historischen Abriss über die Tabuisierung von Sexualität sind folgende Infos bei mir hängengeblieben: Im alten Ägypten ging es deutlich gechillter zu als heute. Es gab nicht mal ein Wort für „Jungfrau“ – wie so oft hat das Christentum hier einiges versemmelt, wobei das Mittelalter an Doppelmoral kaum zu überbieten war. Im Zweiten Weltkrieg gab es übrigens von Soldaten organisierte Vergewaltigungen von Studentinnen, weil Platz für Frau -> Küche, und so. Unsere heutigen Probleme liegen zum Glück woanders. Laut der Referentin besteht das Tabu nämlich darin, mal NICHT „für alles offen“ zu sein. Und: War früher vor allem die Frau damit überfordert, gefallen zu wollen und Orgasmen vorzutäuschen, stehen heute zunehmend auch Männer unter Druck.

Der Kracher war allerdings die Anekdote der Sexualtherapeutin zum Abschluss: Auf ihrer Couch in traditioneller Tracht das Pensionisten-Ehepaar, dessen erster Satz des Mannes sie inspirierte, dieses Thema zu ihrem Beruf zu machen: „I würd ihra so gern amoi wieder in die Semmel rotzen.“ Wohl bekomm’s! Was lernen wir daraus? Welche Sprache man für diese Untenrum-Dinge findet, ist eigentlich egal, solange sie beide sprechen und verstehen.

5. Sinn für Humor in der Kriminalpsychologie

Kriminalpsychologen haben einen sehr eigenen Sinn für Humor. Unerwarteterweise musste ich mir deshalb ausgerechnet beim Vortrag „Sexuelle Gewaltphantasien – sexueller Sadismus“ das Lachen verkneifen. Während wir auf der einen Seite also beobachten, dass BDSM-Fantasien auf einmal schicki sind, erinnert der Vortragende daran, dass Sadisten selten im Privathelikopter ankommen wie Christian Grey – sondern meist eher in einem U-Boot, wie im Fall der ermordeten Journalistin Kim Wall. Aber wo hört die sexuelle Vorliebe auf, wo beginnt die Paraphilie, was ist eine Neigung und was eine Störung? Das in 15 Minuten Talk zu beantworten, käme dem Versuch gleich, „mit einem Vibrator auf Erdöl-Bohrung zu gehen“. Kichernde Mediziner, Ruhe im Auditorium!

Als simple Faustregel lässt sich festhalten: Safe, sane und consensual findet BDSM mit inklinierenden Neigungen (sprich: einer mag Schmerz, der andere fügt sie gern zu) und genügend Empathie und Introspektionsfähigkeit statt. Es geht mehr um die andere Person als um den minutiös geplanten Akt und um die Frage: Finde ich sexuelle Gewalt erregend? Oder erregt mich Gewalt sexuell? Food for thought. Weiter empfiehlt der Kriminalpsychologe übrigens, das Fachbuch „Intimizid – zur Tötung des Intimpartners“ im Handgepäck zu haben. Das sorge für besonders anregende Gespräche mit dem Sicherheitspersonal am Flughafen.

6. There’s a special place in hell for women who don’t support other women …

… in diesem Fall Gerti Senger. Sie ist so was wie die österreichische Dr. Sommer, das Aufklärungs-Urgestein der Nation und findet – auch auf die Gefahr hin, sich damit unbeliebt zu machen, aber wird man ja wohl noch sagen dürfen – die ganze #MeToo-Debatte richtig überflüssig. „Wo bleibt denn da die Sexualität, sollen wir alle denn nun für immer unseren Blick abwenden?“

7. Frühzeitige Samenerguss

Noch eine, wie ich finde, sehr aufschlussreiche Zahl: Das häufigste Sexproblem bei Männern ist der frühzeitige Samenerguss, der anscheinend bei rund 40 Prozent aller Typen auftritt. Der Großteil sucht dafür jedoch keine wie auch immer geartete Therapie. Das am häufigsten behandelte Problem dagegen: erektile Dysfunktion. Die stört halt anscheinend einfach mehr.

Ich weiß jetzt übrigens auch sehr genau, wie Penisimplantate funktionieren. Das Bildmaterial von den Operationen wird mich allerdings noch ein Weilchen verfolgen. Für alle, die es nicht so weit treiben wollen: Laut Vortragendem wirken auch drei- bis viermal Sport in der Woche Wunder für die Libido.

8. Die Unlust der Frau

Klares Lieblings-Pharmaindustrie-Frauenproblem: die Unlust der Frau. Mit Flibraserin, ursprünglich als Antidepressivum entwickelt, soll ja einiges Richtung „Pinkes Viagra“ gehen. Bände spricht da auch eine Studie mit der Oxytocin-Pille. Bei zwei Drittel aller Studienteilnehmerinnen verbesserte sich der Sex nach einigen Wochen. Allerdings genau so bei denen, die ein Placebo bekommen hatten. Tagebuch führen, Lifestyle Modifications, fest dran glauben und gutes altes DRÜBER REDEN hatten also exakt denselben Effekt wie Hormone schlucken.

Apropos Hormone: schon wieder spannend, weil mit keinem Wort erwähnt: was die Anti-Baby-Pille mit unserer Lust alles anrichten kann.

9. Masturbation ist Medizin

Den Vortrag „Vaginale Optimierung“ wollte ich aufgrund des Titels natürlich direkt hassen, aber dann ging es darum, wie Frauen mit Gebärmutterhalskrebs nach der Strahlentherapie ihren Körper wieder zurückerobern können. Ich gebe das jetzt garantiert medizinisch komplett inkorrekt wieder, aber der Vaginaleingang kann nach dem Eingriff tatsächlich komplett „verkleben“. Um das zu verhindern, bekommen die Patientinnen Dilatoren, was ein fancy Medizinwort für Hartplastikdildos mit der Erotik von Reagenzgläsern ist. Ich wollte laut „gebt ihnen doch Vibratoren!“ schreien und zack – genau das wird von der unkonventionellen Psychoonkologin inzwischen auch empfohlen.

Und dann gab es gleich noch ein bisschen historisch wertvolle Materialkunde on top: Was wir heute ganz tiefenentspannt online shoppen, gab es Anfang der Nullerjahre noch für 400 Dollar auf Rezept: die Urform des Womanizer. Hier das wunderbare Promovideo zum allgemeinen Amüsemang:

Spaßvideos beiseite, rund 41 Prozent aller Zervixkarzinom-Patientinnen sind nach der Bestrahlung zusätzlich zu den körperlichen Verarbeitungsprozessen auch psychisch traumatisiert und müssen sich langsam ihre Sexualität zurückerobern. Das kann man „vaginale Optimierung“ nennen – oder eben: beharren auf einem Menschenrecht, siehe Punkt 1. Ich war jedenfalls extrem berührt davon, wie die Therapeutin ihre Patientinnen auf ihrem Weg zurück in den eigenen Körper hilft und finde, das gilt auch für uns Gesunde: Liebt euch! Sex ist ein Wunder! Und unser Menschenrecht.

Nachtrag: Ich hatte eine selbst organisierte Presseakkreditierung für die Veranstaltung und durfte kostenlos daran teilnehmen. Der Eierstocktest von Ivary war für Veranstaltungsteilnehmer gratis.

 

„9 Dinge, die ich auf einem Sexualmedizinerkongress gelernt habe“

Foto: MCKPhotography

Zur Autorin
Theresa Lachner ist Journalistin und schreibt unter anderem für NEON, DIE ZEIT, Jolie, Cosmopolitan, Glamour und Business Punk. Eines ihrer Lieblingsthemen ist Sex – denn Sex ist Lachners Ansicht nach in unserer Gesellschaft zwar omnipräsent, allerdings werde er oft nicht richtig verstanden. „Viel zu oft erleben wir Sexualität instrumentalisiert, kommerzialisiert oder ironisiert“, sagt sie. Das will die Journalistin mit ihrem Blog Lvstprinzip ändern.

Der Beitrag „9 Dinge, die ich auf einem Sexualmedizinerkongress gelernt habe“ ist zuvor auf Theresa Lachners Blog Lvstprinzip erschienen.