Immer mehr Deutsche möchten ihre Organe nach dem Tod spenden. Zugleich sinken die Organentnahmen auf einen neuen Tiefstand. In den Kliniken müsse sich viel ändern, fordern Mediziner nach einer umfassenden Analyse.
Während die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland steigt, entnehmen Ärzte immer weniger Organe. Hauptursache für den Rückgang sei, dass die Entnahmekliniken immer weniger mögliche Organspender melden. Dies belegen Mediziner um Kevin Schulte und Thorsten Feldkamp vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in einer umfassenden Studie. Dabei sei in Deutschland nicht nur die Spendebereitschaft, sondern auch die Zahl der medizinisch möglichen Organspender gestiegen.
Für die im „Deutschen Ärzteblatt“ veröffentlichte Studie haben die Experten die Zahlen theoretisch möglicher und tatsächlicher Organspenden in deutschen Kliniken in den Jahren 2010 bis 2015 verglichen.
Der Organspende-Skandal von 2012 wird häufig als Grund dafür genannt, weshalb die Anzahl der Organspenden hierzulande rückläufig ist. Von 2010 bis 2017 ging die Zahl der Organspender von 1296 auf einen neuen Tiefstand von 797 zurück. Dieser Rückgang war jedoch vor dem Skandal am größten. Einer Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge stehen 84 Prozent der Deutschen der Organ- und Gewebespende positiv gegenüber – fünf Prozent mehr als 2010. Der Anteil der Befragten, der angab, einen Organspendeausweis zu besitzen, nahm von 2008 bis 2018 von 17 auf 36 Prozent zu. Eine mangelnde Bereitschaft sei demnach nicht die Ursache für den Rückgang der Organspenden, betonen die Autoren.
Eine noch 2012, im Jahr des Skandals, verabschiedete Gesetzesnovelle verpflichtet alle Entnahmekrankenhäuser, einen Transplantationsbeauftragten zu benennen und mögliche Organspender an die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) zu melden. Danach sei die Rate der Kontaktaufnahmen der Kliniken zur DSO jedoch gesunken, schreiben die Autoren. Sie kritisieren, dass die Gesetzesformulierung Unsicherheit hervorgerufen habe, weil sie etwa offen lasse, „wann genau eine Meldung von möglichen Spendern erfolgen muss.“
Schulte, Feldkamp und Kollegen analysierten, wie viele gestorbene Patienten theoretisch für eine Organspende in Frage kamen, nämlich diejenigen mit einer Hirnschädigung. Wichtig ist außerdem, dass es etwa keine Ausschlusskriterien wie Krebs gibt. Zudem muss eine Zustimmung zur Spende vorliegen. Unter solchen Gesichtspunkten ist die Zahl der möglichen Organspender von 2010 bis 2015 um 13,9 Prozent gestiegen (von 23.937 auf 27.258). Im gleichen Zeitraum ist die Anzahl der realisierten Organspenden jedoch um 32,3 Prozent zurückgegangen. Die Zunahme möglicher Organspender erkläre sich beispielsweise dadurch, dass es mehr Patienten mit komplexer intensivmedizinischer Therapie vor dem Tod gebe.
Die Studienautoren untersuchten die Situation an sechs Universitätskliniken in Deutschland etwas genauer. Dabei fanden sie sehr unterschiedliche Realisationsquoten, die das Verhältnis von möglichen Organspenden zu tatsächlichen Spenden angibt: Während diese Quote in einem Fall bei unter einem Prozent lag, betrug sie an einem anderen Klinikum 16,3 Prozent. Nach Berechnungen der Mediziner wären bereits bei einer deutschlandweiten Realisationsquote von zehn Prozent 2726 statt 877 Organspenden im Jahr 2015 möglich gewesen.
Die Universitätskliniken sind in der Studie anonymisiert. Dies sei notwendig gewesen, um überhaupt entsprechende Daten zu erhalten, berichtet Erstautor Kevin Schulte. Von 22 kontaktierten Kliniken seien nur sechs bereit gewesen, entsprechende Zahlen zu übermitteln. „Das ist an sich schon eine interessante Aussage“, betont Schulte. Er plädiert für einen stärkeren Vergleich von und mehr Kontrolle in den Krankenhäusern. Diese müssten sich im Hinblick auf Organspenden qualitätsorientiert verbessern. Zwar sei die Finanzierung für die Organspende nicht kostendeckend, allerdings könne dies nicht der Grund für die großen Unterschiede in der Studie sein.
Auf eine konkrete Finanzierungslücke weist Irmtraut Gürkan, Kaufmännische Direktorin des Universitätsklinikum Heidelberg, hin: „Die direkten Kosten für die Organentnahme werden derzeit zwar gedeckt, nicht aber die Aufwendungen für die verlängerten Liegezeiten auf der Intensivstation“, wird sie in einem Begleitartikel im „Deutschen Ärzteblatt“ zitiert. Im selben Artikel sagt Sabine Weiss (CDU), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, eine Organspende dürfe für die Krankenhäuser kein Minusgeschäft sein. Das Ministerium wolle dazu nach der Sommerpause einen Gesetzesentwurf vorlegen.
Drei der zehn Studienautoren nennen mögliche Interessenkonflikte, so sind sie Mitglieder der DSO, von Transplantationskonferenzen an Unikliniken oder erhielten Honorare und Drittmittel von Pharmaunternehmen.
Quelle: dpa