Demenzkranke und die DDR-Nostalgie

Demenzkranke und die DDR-Nostalgie

Produkte der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik stehen in einem Regal der Tagesbetreuung der Alexa Seniorenresidenz in Dresden. © dpa

Das Früher wird zum Jetzt. Ein Dresdner Pflegeheim führt demente Bewohner auf ungewöhnliche Weise in ihre Vergangenheit zurück. Gegenstände aus der DDR helfen vielen wieder auf die Sprünge.

An ihren Vornamen kann sich Helene Petersen* an diesem Vormittag erstmal nicht erinnern. Doch bei Fragen nach ihrem früheren Leben fallen der 95-Jährigen sogar Details ein. Beispielsweise Erinnerungen an die Luftangriffe auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945: „Da saßen wir im Keller unseres Hauses in Dresden-Trachau. Es ist Gott sei Dank nicht beschädigt worden“, erzählt die alte Dame, die früher einmal Tänzerin war. Nun sitzt sie mit Bewohnern eines Pflegeheimes in einem Raum, der einer Küche aus den 1960er Jahren nachempfunden ist. Ein großes Fenster gibt den Blick auf eine Straße mit Fußweg frei. Draußen laufen Passanten vorbei, drinnen sieht es aus wie damals in der ehemaligen DDR.

Die Idee zu einem DDR-Erinnerungszimmer entstand eher zufällig. Vor eineinhalb Jahren wollte Gunter Wolfram, Leiter der Seniorenresidenz Alexa, in einem leerstehenden Raum im Erdgeschoss des Gebäudes ein Kino einrichten. Um die Szenerie etwas aufzulockern, stellte er zur Dekoration einen Motorroller der Marke „Troll“ auf: „Als wir im Kino Premiere hatten, war eigentlich gar nicht der Film das Entscheidende. Manche erzählten, dass sie damals auch einen ‚Troll’ gefahren sind, die erste Freundin auf dem Motorroller mitnahmen.“ Selbst die schwerer von Demenz Betroffenen hätten plötzlich gewusst, wo der Zündschlüssel hin muss und der Ständer ausgeklappt werden kann.

Selbst Honecker ist mit dabei

„Ich denke nicht, dass unsere Schützlinge in der DDR-Zeit oder überhaupt in irgendeiner Zeit leben. Das sind eher Erinnerungsblasen, die mit Emotionen verbunden sind“, sagt Wolfram. Er erklärt, dass man den Betroffenen somit nicht nur ein positives Lebensgefühl vermitteln möchte. Wenn die 20 Demenzkranken unter den anderen Bewohnern auf diese Weise tagsüber beschäftigt seien, sorge das auch auf den anderen Etagen der Seniorenresidenz für reibungslose Abläufe. Die Betroffenen würden dann nicht mehr scheinbar ziellos auf den Fluren herumwandern und sich in andere Zimmer verirren.

Alltagsgegenstände von einst schaffen eine vertraute Umgebung: Küchenbuffet, Geschirr, ein Ofen und viele andere Dinge mehr. Selbst das Honecker-Bild fehlt nicht – allerdings hängt es nicht an der Wand, sondern ist in einer Kiste mit anderen Bildern. Politische Botschaften sind Tabu.

Tagsüber wird die Gruppe in zwei Schichten von je einer Ergotherapeutin und einer Pflegefachkraft betreut. Ein geregeltes Programm gibt es nicht. Die Mitarbeiterinnen machen das je nach Stimmungslage ihrer Patienten. An einer Seite des Raumes wird das Einkaufen simuliert. Hier findet man DDR-Erzeugnisse und auch Westprodukte aus dem „Intershop“. Wolfram hat das alles bei Ebay oder auf dem Trödelmarkt erstanden.

Wolfram sieht Erfolge: Bei einigen sind verloren geglaubte Fähigkeiten zurückgekehrt. „Die Leute essen wieder selber, gehen wieder selber zur Toilette, sprechen miteinander und singen die alten Lieder.“ Selbst manche, die früher bettlägerig waren, hätten sich wieder aufgerafft und nähmen am Gruppenalltag teil.

Auch ein Gläschen Wein ist erlaubt

Vjera Holthoff-Detto, Chefärztin der Berliner Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Alexianer Krankenhaus, forscht zur Demenz. Man müsse nicht so weit wie die Dresdner gehen und ein ganzes Zimmer im Stil der 1960er Jahre einrichten, sagt die Professorin. Doch diese Grundidee sei der Schlüssel zur Kommunikation mit Demenzkranken: „Man muss etwas finden, was ihnen so präsent ist, dass sie darüber gerne sprechen möchten. Das müssen nicht unbedingt fröhliche Dinge sein.“ Holthoff-Detto verweist auf die Reminiszenz-Therapie, bei der unter anderem mit altvertrauten Gegenständen Erinnerungen hervorgeholt werden.

Die Professorin berichtet davon, dass Erinnerungen nicht an einer Stelle des Gehirns abgespeichert sind. Vielmehr seien sie wie in einzelnen Säulen mal hier, mal da hinterlegt – auf jeden Fall nicht immer direkt im Gedächtniszentrum: „Um das ganze Bild zu reaktivieren reicht es, den Schlüssel zu einer dieser Säulen zu finden. Sofern die Verbindungen zwischen ihnen noch funktionieren, leuchten auch die anderen Säulen auf.“ Ein Geruch kann so zum Auslöser werden, die Erinnerung selbst in Bild oder Ton wiederauferstehen zu lassen.

Ein „Krankenhaus für Alte“ will die Seniorenresidenz auf keinen Fall sein. Deshalb gibt es hier auch keine Auflagen für Raucher oder jene, die gern mal Alkohol trinken. „Vom Liebesrausch bis zum Eifersuchtsdrama – das alles gehört zum täglichen Geschäft“, sagt Wolfram. Einmal seien zwei Bewohner erst nach Mitternacht von einem Ausflug zurückgekehrt – betrunken, aber überglücklich: „Die hatten ein Konzert von Status Quo besucht und sich anschließend von einem Taxi chauffieren lassen.“

*Name der Patientin von der Redaktion geändert.

Von Jörg Schuri (dpa)