Diagnose Schmerz – Wie ein Volksleiden um sich greift

Schmerztherapie mit Eis. © dpa

Schmerztherapie mit Eis. © dpa

Stechen im Rücken, Hämmern im Kopf – millionenfach leiden Bundesbürger unter chronischen Schmerzen. Und es werden immer mehr. Bei der Therapie sehen Experten Nachholbedarf.

Millionen Deutsche leiden darunter, viele über Jahre ­– Diagnose: Schmerz. Doch die Verbesserungen in der Therapie hinken der Zunahme der Fälle hinterher.

Wie hat sich die Zahl der Schmerzdiagnosen entwickelt?

Schmerzen ohne direkten Bezug zu einer anderen organischen Krankheit wurden nach den Daten aus dem neuen Arztreport der Barmer GEK 2014 bei 3,25 Millionen Menschen diagnostiziert. Die Zahl der Fälle ist stark gestiegen. Mehr als vier Prozent der Bundesbürger sind betroffen – 2005 waren es 1,6 Prozent. Die Dunkelziffer von Betroffenen ohne einschlägige Diagnose gilt als hoch. Die Zahl der ambulant behandelten chronischen Schmerzpatienten ist laut Report deutlich gestiegen – auf 655 000 im Jahr 2014.

Wie verteilen sich die Diagnosen?

Die Diagnose „Schmerz“, bei der die Ärzte eine körperliche Ursache annehmen, macht mit rund vier Fünftel den größten Anteil aus. Hier gab es seit 2005 einen Anstieg um 72 Prozent. Bei der Diagnose „Anhaltende Schmerzstörung“, die eher auf die Psyche zurückgeführten Schmerz umfasst, war der Anstieg bei kleineren Fallzahlen noch höher.

Welche Personen sind besonders betroffen?

Insgesamt sind chronische Schmerzen laut Statistik bei Frauen häufiger. Bei den 60- bis 64-Jährigen erhielten 4,5 Prozent der Männer und 6,6 Prozent der Frauen die Diagnose „Schmerz“. Bei den über 90-Jährigen sind es fast zehn Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen. In jüngeren Altersgruppen ist die Diagnose weit seltener.

Wo Menschen mit chronischen Schmerzen Hilfe finden

Schmerzen hat jeder mal. Aber bei einigen Menschen brennt sich der Schmerz im Gehirn ein, obwohl die Ursache eigentlich behandelt ist – und der Schmerz bleibt bestehen. Ist das mindestens drei bis sechs Monate der Fall und beeinflussen die Schmerzen etwa die Stimmung oder die Mobilität, wird das als chronischer Schmerz bezeichnet. Betroffene finden zum Beispiel in speziellen Schmerzzentren Hilfe. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) bietet die Möglichkeit, per Postleitzahl nach einem Schmerzzentrum in der Nähe zu suchen.

Ebenfalls speziell für die Bedürfnisse von Schmerzpatienten geschult sind Ärzte, die die Zusatzqualifikation Algesiologie tragen oder die Weiterbildung „Spezielle Schmerztherapie“ absolviert haben. Hilfe finden Betroffene auch bei der Patienten-Organisation Deutsche Schmerzliga. Sie stellt auf Anfrage eine Liste mit Selbsthilfegruppen in der Region zur Verfügung und berät Betroffene über das Schmerztelefon (Montag, Mittwoch und Freitag von 9.00 bis 11.00 Uhr unter 06171/28 60 53 sowie Montag von 18.00 bis 20.00 Uhr unter 06201/604 94 15).

Welche Begleiterkrankungen sind häufig?

Chronische Leiden am Muskel-Skelett-System – vor allem der Wirbelsäule – kommen besonders oft bei Schmerzpatienten vor, ebenso wie bestimmte Krebserkrankungen. Über die Zusammenhänge gibt die Studie keinen Aufschluss. Mögliche Gründe reichen von einer Zunahme von Einflüssen wie schmerzauslösenden Körperhaltungen oder von Stress bis hin zu mehr Diagnosen wegen steigender Aufmerksamkeit der Ärzte.

Wie lange leiden Betroffene unter chronischen Schmerzen?

Im Durchschnitt dauert die Leidensgeschichte eines Schmerzpatienten sieben Jahre. Nach Angaben der Bundesärztekammer kämpft jeder Fünfte sogar 20 Jahre und länger gegen die Beschwerden.

Wie kommen Patienten typischerweise an passende Therapien?

Laut Deutscher Schmerzliga und weiterer Fachorganisationen oft über Umwege – es fehle an einer Vernetzung innerhalb der medizinischen Fachgebieten. Erste Anlaufstelle sei oft die Apotheke. Patienten wüsten oft nicht einmal, dass es Ärzte mit einer speziellen schmerzmedizinischen Ausbildung gebe. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin meint, für eine flächendeckende Versorgung seien mindestens 10 000 Schmerzmediziner nötig. Derzeit gebe es nur 400 Ärzte, die in Vollzeit Schmerzpatienten versorgen.

Was fordern Ärzte und Krankenkassen?

Die Mediziner setzten sich auf einem Ärztetag bereits vor zwei Jahren für mehr und bessere Schmertherapie ein – unter anderem durch Teams verschiedener Fachrichtungen. Die Akutschmerztherapie in den Kliniken müsse gestärkt werden. Barmer-GEK-Chef Christoph Straub mahnt durchgreifende Verbesserungen an: „Angesichts von Millionen Betroffenen muss die Bekämpfung des chronischen Schmerzes zu einem nationalen Gesundheitsziel werden.“

Von Basil Wegener (dpa)