“Druck machen: Wir sind keine Randgruppe”

Jonathan Kaufman @ Aktion Mensch

Jonathan Kaufman @ Aktion Mensch

Seit seiner Kindheit lebt Jonathan Kaufman, der unter anderen die Regierung Obama und die Vereinten Nationen zu den Themengebieten Diversität und Behinderung berät, mit einer körperlichen Einschränkung. Wir trafen ihn beim Zukunftskongress der Aktion Mensch („Inklusion 2025“) in Berlin, wo er als Hauptredner eingeladen war.

Redaktion: Seit ihrer Kindheit leiden Sie an zerebraler Kinderlähmung. Ihren rechten Arm können Sie kaum bewegen. Trotzdem bezeichnen Sie Ihre Behinderung als „Geschenk“. Wie meinen Sie das?

Jonathan Kaufman: Gelitten habe ich nie unter meiner Behinderung. Durch sie habe ich gelernt, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Meine Behinderung fordert mich dazu heraus, meine Ziele noch stärker zu verfolgen. Ich wollte immer etwas erreichen in meinem Leben und dafür strenge ich mich an.

Jonathan Kaufman ist einer der innovativsten Denker im Bereich Diversität und Behinderung. Er beriet unter anderem das Weiße Haus unter der Regierung Obamas sowie die Vereinten Nationen. Kaufmann ist Gründer der Beratungsfirma Disability Works in New York und Inhaber der J Kaufman Consulting.

Können Sie ein Beispiel geben?

Als Junge sah ich, wie ein anderes Kind mit der gleichen Behinderung seine Schnürsenkel einhändig binden konnte. Ich hatte Turnschuhe mit Klettverschluss. Von da an habe ich das Binden geübt. So lange, bis ich es konnte! Meine Behinderung konfrontiert mich zwar mit Problemen – meistens bei ganz normalen Alltagshandlungen – sie bringt mich aber auch immer wieder dazu, nach Lösungen zu suchen und neue Wege zu entdecken.

Haben Sie sich nie ein Leben ohne körperliche Einschränkungen gewünscht?

Es gibt solche Momente, aber selten. Ohne meine Behinderung wäre ich nicht die Person, die ich heute bin. Sie ist ein Teil von mir und das ist gut so. Das möchte ich auch meinem Umfeld vermitteln. Egal, ob der Mensch eine Behinderung hat oder nicht, jeder muss lernen, sich so zu nehmen, wie er ist. Ich bin ehrlich davon überzeugt, dass jede Einschränkung, wenn man sich mit ihr auseinandersetzt, neue Perspektiven eröffnen kann.

Mit der Digitalisierung den Begriff “Behinderung” neu denken

Sie sagen, dass wir im 21. Jahrhundert den Begriff „Behinderung“ neu denken müssen. Können Sie das genauer erklären?

Wir leben heute in einem digitalen Zeitalter. Der technologische Fortschritt verschafft uns ungeahnte Freiräume. Gerade für Menschen mit Behinderungen steckt in der Digitalisierung, allen voran im Internet und in den sozialen Netzwerken, ein enormes Potenzial gesellschaftlicher Teilhabe.

Wie meinen Sie das genau?

Für Menschen mit Behinderung bedeutet das Internet einen Paradigmenwechsel. Zum ersten Mal können sie ihre Geschichte, die Art wie sie wahrgenommen werden selbst bestimmen und mitgestalten. Das Internet erlaubt ihnen sichtbar zu werden und es gibt ihnen eine Stimme. Dem Netz ist es doch egal, ob ich zu Hause im Rollstuhl vor meinem Computer sitze, oder ob ich mit meinem Smartphone durch die Stadt jogge. Im Internet kann sich jeder zu Wort melden und das ist eine unglaubliche demokratische Bereicherung.

In Deutschland gibt es eine wachsende Community von Bloggern, die eine Behinderung haben und mitunter sehr offen und lustig über ihr Leben schreiben. Sind es solche Beiträge, die unser Bild von Menschen mit Behinderung verändern?

Absolut! Je mehr Stimmen und je unterschiedlicher sie sind, desto besser. Auch ich weiß nicht, wie es ist, mit dem Rollstuhl durch die Stadt zu fahren oder blind zu sein. Tatsache ist doch, dass wir Menschen mit Behinderung eine äußerst vielfältige Gruppe sind. Je mehr Leute ihre Geschichte erzählen, desto besser. Thomas L. Friedman, Kolumnist bei der New York Times, nennt unsere heutige Welt „flach“. Er meint damit, dass sich unsere physischen und kulturellen Grenzen immer stärker auflösen. Tatsächlich haben wir heute die große Chance, festgefahrene Strukturen und Stereotype, wie eben das Bild der „Behinderung“, aufzubrechen und neu zu bestimmen.

Im Internet gehen allerdings auch immer mehr Beiträge in der Daten- und Informationsflut verloren. Wie können wir damit umgehen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube das Beste ist, sich gezielt untereinander zu vernetzen und sich in Communitys zu organisieren. So geht man als Individuum nicht so schnell unter. Einzelne Ideen und Gedanken können einfacher weitergetragen werden. Nichts ist so stark wie der Kontakt zu und die Vernetzung mit anderen – das gilt auch fürs Netz. Am Ende sind jedoch auch Facebook und Twitter nur Instrumente, die uns dabei helfen, gehört zu werden.

Abseits der digitalen Medien geht es aber auch darum, sein Leben praktisch zu gestalten. Was nützt einem Menschen, der im Rollstuhl sitzt, sein gut besuchter Blog, wenn die U-Bahnstation keinen Aufzug hat?

Das Internet ist kein universelles Heilmittel. Trotzdem kann es vielen Menschen, besonders wenn sie körperlich oder psychisch eingeschränkt sind, dabei helfen, ihr Leben zu organisieren, Kontakte zu knüpfen und sich in öffentliche Debatten einzumischen – sei es über einen eigenen Blog, via Facebook oder auch nur per Kommentarfunktion auf der Webseite einer Zeitung.

Die Langsamkeit politischer Veränderungen

Was müssen Politik und Gesellschaft tun, damit Inklusion nicht nur im Netz, sondern auch auf der Straße ankommt?

Hier geht es vor allem um den Ausbau von Bürgerrechten sowie um die Frage, wie wir diese wahrnehmen. Die Behindertenrechtskonvention ist ja zum Glück schon seit längerem Gegenstand der politischen Agenda und nicht nur in der Politik sind erste Veränderungen spürbar.

Für welche Bereiche gilt dies noch?

Die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen werden langsam auch von der Wirtschaft entdeckt – nicht umsonst stellt die IT-Branche immer gezielter Personen mit Autismus ein. Auch das ist eine Entwicklung, die den Blick auf Menschen mit Behinderung verändern wird.

Konnten Sie während Ihrer Arbeit bei den UN und bei US-Präsident Obama (im weißen Haus) das Thema Inklusion weiter voranbringen?

Das hoffe ich doch! Wer durch die Politik etwas bewegen will, braucht allerdings einen langen Atem. Ohne gesellschaftlichen Druck passiert leider kaum etwas. Politiker – und auch wir Menschen mit Behinderung – müssen verstehen, dass wir keine Randgruppe sind. Bereits heute übersteigt unsere Zahl die der Bevölkerung Chinas. Bei euch in Europa hat jede sechste Person eine Behinderung. Anstatt auf die Politik zu warten, sollten wir selbst aktiv werden und für unsere Interessen eintreten. Wer sich zurücklehnt und abwartet, darf sich nicht beschweren, wenn sich nichts ändert.