Ein nüchterner Blick auf das Trinken

Alkoholismus ist eine Volkskrankheit, daran lässt der Autor und Journalist Daniel Schreiber in seinem Sachbuch „Nüchtern – Über das Trinken und das Glück“ keinen Zweifel. Offen und ohne Scham berichtet er über seine eigene Alkoholabhängigkeit und zeigt, wie schmal der Grat zwischen genussvollem Trinken und Alkoholismus sein kann.

© Hanser Berlin

© Hanser Berlin

Offenbar kann man jahrelang ein Trinker sein, ohne dass einen Freunde, Kollegen oder die Familie darauf ansprechen. Und das nicht nur, weil alle wegschauen, sondern weil sie es sogar für normal halten. In seinem Buch „Nüchtern – Über das Glück und das Trinken“ geht es dem Journalisten und Autor Daniel Schreiber nicht zuerst um Alkoholismus an sich, sondern darum, wie weite Teile unserer Gesellschaft mit diesem Phänomen umgehen.

Aus Schreibers Sicht herrscht hier eine eigenartige Doppelmoral. „Von einer Gesellschaft, die sich kollektiv den Genuss eines Rauschmittels erlaubt, würde man eigentlich erwarten“, so erklärt er durchaus schlüssig, „dass sie nicht auf die Menschen herabschaut, die ein Problem mit dem Konsum dieser Droge haben und davon krank werden.“ Tatsächlich werde der Alkoholmissbrauch einerseits verharmlost oder verdrängt; der Alkoholiker selbst aber – wenn er sich als solcher bekennt – wird durch seine Krankheit stigmatisiert.

Aspirin vor dem Einschlafen

Sehr plastisch beschreibt der Autor den schleichenden Prozess, in dem Wein, Bier und harter Sprit über die Jahre immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebens wurden. „Sehr lange funktioniert das Trinken wunderbar“, bemerkt Schreiber. Doch schließlich wollte er wieder selbst die Kontrolle übernehmen.

Immer wieder versuchte Schreiber es mit Mäßigung und entwickelte neue Strategien, um sein Trinkverhalten zu regeln: „Mindestens sechs Stunden Schlaf, Aspirin vor dem Einschlafen, wenn viel zu viel getrunken, sich übergeben (…).“ Unterstützung, um aus der Sucht herauszukommen, bekam er nicht. Seinen Entschluss, schließlich ganz mit dem Trinken aufzuhören, empfanden viele seiner Freunde sogar als übertrieben. Selbst sein Arzt meinte, seine Leberwerte wären kein Grund zur Abstinenz.

Auch in seiner Zeit als Alkoholiker entsprach Schreiber nie dem Stereotyp des steuerungsunfähigen, sozial schwer kompatiblen Säufers. Keiner seiner Bekannten hatte in ihm je einen krankhaften Trinker gesehen. Selbst in den Hochphasen seines Alkoholkonsums blieb er beruflich erfolgreich, hatte Freunde und führte ein ausgefülltes Sozialleben. Tatsächlich ist Alkoholismus eine Krankheit mit vielen Gesichtern, die Menschen aus jeder sozialen Schicht, jeden Geschlechts und jeden Alters betrifft.

 

© Olaf Blecker

© Olaf Blecker

Daniel Schreiber ist freier Autor und arbeitete als Redakteur für die Zeitschriften Monopol und Cicero. Seit 2012 erscheint in der Zeitung taz seine Kolumne “Nüchtern”.

Intimität und Sachlichkeit

„Nüchtern“ ist kein klassisches Sachbuch. Es ist essayistisch und sehr persönlich geschrieben. In dem Buch dominieren nicht harte wissenschaftliche Fakten, sondern Schreibers individuelle Erfahrungen. Seine Suchtbiografie dient dem Autor als Ausgangspunkt für soziokulturelle Betrachtungen und als eine Art Rahmenhandlung für die immer wieder eingestreuten, recht aktuellen psychologischen und neurologischen Erkenntnisse der Suchtforschung.

Trotz der intimen Details wirkt das Buch dabei nie exhibitionistisch. Obwohl Schreiber über sich selbst schreibt, gibt er erstaunlich wenig über sich als Privatperson preis. Wie er sich tatsächlich nach einer durchzechten Nacht oder einem Rückfall fühlte, bleibt ausgespart. Auch wie seine Familie oder sein Partner auf das krankhafte Trinken reagierten, wird vom Autor nicht näher ausgeführt. Protagonist des Buches ist der Alkohol.

An manchen Stellen häufen sich vielleicht die therapeutischen Weisheiten, die der Autor bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt hat, doch wirken sie nie missionarisch. Dass Schreiber seine eigene Abhängigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt, ist nur konsequent. Seiner Kritik der Verdrängung und Stigmatisierung stellt er seine eigene Pathologie entgegen – offen und ohne Scham.

 “Nüchtern. Über das Trinken und das Glück” ist im Hanser Berlin Verlag erschienen und kostet 16,90 Euro.