Kinder mit und ohne Handicap in gemeinsamen Klassen – ein hehres Ziel der deutschen Bildungspolitik. Besonders kompliziert ist so ein Unterricht bei sozial und emotional entwicklungsgestörten Schülern. Tut der Staat genug für diese Jugendlichen – und auch ihre Lehrer?
Für eine gute Betreuung von emotional und sozial verhaltensauffälligen Schülern muss der Staat nach Expertenansicht viel mehr Geld und Personal als bisher bereitstellen. Dies sei gerade dann wichtig, wenn man für derart problematische Schüler einen inklusiven Unterricht an Regelschulen gewährleisten wolle, der auch allen anderen Kindern gerecht wird und Lehrer nicht überfordert. „Die Lehrkräfte brauchen Unterstützung durch multiprofessionelle Teams“, sagte der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Zu diesen Teams könnten Sozial- und Sonderpädagogen, Familientherapeuten und Schulgesundheitsfachkräfte gehören. Auf jeden Fall notwendig sei eine Doppelbesetzung Lehrer/Sonderpädagoge für schwer entwicklungsgestörte Schüler, forderte Beckmann. Die Zahl verhaltensauffälliger Kinder mit entsprechendem Förderbedarf ist in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen – von gut 46.000 (2005) auf über 85.000 im Schuljahr 2015/16 nach den bisher aktuellsten Zahlen der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK).
„Die Länder sollen aufhören, die Situation schönzureden“, sagte Beckmann. Der Hinweis auf fehlende Finanzmittel oder einen akuten Mangel an Sozialpädagogen helfe nicht weiter – in Zeiten sprudelnder Steuerquellen müsse für den dringend notwendigen Zusatzaufwand im Bereich der schulischen Inklusion Geld vorhanden sein. „Ansonsten wird es nachgelagerte Kosten geben“ – nämlich wenn sich der Staat nicht genügend um die betroffenen Schüler und Lehrer gekümmert habe.
Der bundesweit rund 140.000 Pädagogen vertretende VBE stützt sich auf eine neue Expertise des Berliner Professors für Psychoanalytische Pädagogik, Bernd Ahrbeck, zum Förderbedarf von Kindern mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen (ESE). Diese Schüler müssten „stark individualisiert und personell gebunden unterstützt werden“. Derzeit werde ihre Lage aber „oft trivialisiert, etwa als verhaltensoriginell oder herausfordernd“, sagte der Wissenschaftler der dpa. Eine intensivpädagogische Betreuung könne „auch an Regelschulen gelingen – wenn die dazu dringend benötigten Rahmenbedingungen bereitgestellt werden“, bilanzierte Ahrbeck.
Dies sei derzeit aber nicht der Fall, meinte VBE-Chef Beckmann. So seien an den Schulen auch verbesserte, großzügigere Raumkonzepte nötig, die individuellen Unterricht und Kleingruppen-Förderung überhaupt erst möglich machen. Insgesamt habe Deutschland im internationalen Vergleich bei der Inklusion „noch viel Luft nach oben“. Dafür sind nach Berechnung seines Verbandes allein in Nordrhein-Westfalen 7000 zusätzliche Sonderpädagogen erforderlich.
Die Bundesregierung hatte sich 2009 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Schüler mit und ohne Handicap gemeinsam zu unterrichten (Inklusion). Seitdem steigen die Quoten. 2015/16 wurden fast 195.000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet (37,7 Prozent), gut 322.000 (62,3 Prozent) an Sonderschulen. In den Bundesländern gehen die Inklusionsanstrengungen indes weit auseinander. Der Umgang mit gehandicapten Kindern sei „eine Riesenherausforderung für die Schulen – über die gesamte Republik hinweg“, betonte Beckmann.
Von Werner Herpell (dpa)