Freudenthals Erfinderherz 

Die Draht-Implantate werden in Bolivien von Frauen gewebt und Kindern mit Herzfehlern eingesetzt. © dpa

Durch die Sauerstoffarmut in Boliviens Höhe sterben dort weit mehr Kinder an Herzproblemen als anderswo. Ein Ärztepaar mit deutschen Wurzeln suchte lange nach einer Lösung. Und fand sie in selbst gehäkelten Herzimplantaten – die zum Exportschlager geworden sind.

Franz Freudenthal als rastlos zu bezeichnen, ist reichlich untertrieben. Er hastet durch das Labyrinth seiner vielen Erfindungen. Im Keller bastelt er am Fahrrad der Zukunft, man darf noch nichts darüber schreiben. „Das wird die Menschheit verändern.“ Weiter geht es zu Tüftlern, die aus einem Smartphone ein Mikroskop machen, es öffnen sich geheime Wände, auch neuartige LED-Lampen lässt er hier fertigen. Freudenthals größter Stolz aber ist nur einen Daumen lang.

Bolivien, La Paz, 3600 Meter Höhe, das Mittelschichtviertel Obrajes. Am Eingang steht „Kardiozentrum“, doch die Herzklinik für Kinder, der Grund des Besuchs, ist nur ein kleiner Teil des Freudenthalschen Komplexes, der sich über eine halbe Straße erstreckt. Freudenthal ist Kinderkardiologe, Ingenieur, Improvisateur und Erfinder in einer Person.

Improvisieren lernte Freudenthal von seiner Oma

Seine Frau Alexandra ist der ausgleichende Part. Sie betreut die Patienten, denen die Beiden ein neues Leben geschenkt haben. Im Wartebereich hängen bunte Plakate mit jeweils dutzenden Kinderbildern und einer Jahreszahl – die Bilanz, wie viele der Freudenthalschen Herzimplantate jeweils eingesetzt wurden und Leben gerettet haben.

Die Geschichte, die bis hin zum US-Sender CNN weltweit für Aufmerksamkeit sorgt, beginnt in Königsberg, bei Ruth Wrzesinski. Franz Freudenthal kommt ins Schwärmen: eine gefeierte Chirurgin, die in der Medizinszene Furore macht. Bis die Nazis an die Macht kommen.

1940 flieht die Frau nach Bolivien. Freudenthal erzählt und erzählt, bis er auflöst: „Meine Großmutter“. Sie hat eine starke soziale Ader, ist immer auf dem Land im Einsatz. Und der junge Franz geht in den 1970er Jahren mit. Im Studium schließlich lernt er Alexandra kennen – nun werden beide von der Oma geprägt, von ihrer Gabe zur Improvisation.

„Es gibt da nichts. Da muss man kreativ sein, wenn man Zähne ziehen, operieren oder ein Auto reparieren will.“ Diese Lehre ist beiden Antrieb bei einem Problem, das sie quält. Wegen der Höhe von fast 4000 Metern und der damit einhergehenden Sauerstoffarmut kommen im Hochland rund zwei Prozent der Kinder mit einem Herzfehler zur Welt – lange Zeit oft ein Todesurteil. „Wir haben in Bolivien eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten Südamerikas, wir wollten was dagegen tun.“

Herzimplantate made in Bolivia

Mit Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und des Katholischen Akademischen Austauschdienstes (KAAD) geht das Ehepaar 1993 nach Deutschland, macht dort eine Fachausbildung. Das Herzthema in ihrer Heimat lässt die beiden aber nicht los, nach einer Station in Ecuador kehren sie nach Bolivien zurück.

Freudenthal sucht und findet eine simple Lösung zum Verschließen von Löchern im Herzen – indem er sich an die traditionellen indigenen Webtechniken in den Anden erinnert. Heute weben rund 30 Frauen in Freudenthals kleinem Imperium unter strengen hygienischen Bedingungen aus einem hauchdünnen Draht international zertifizierte Implantate in den unterschiedlichsten Größen.

Über einen Katheter werden sie – oft mit nur örtlicher Betäubung – mit minimalinvasiven Eingriffen Richtung Herz geführt, werden dort „abgeworfen“ und verschließen das Loch. Das Patent mit der Nummer DE 10000137 A1 trägt den Titel: „Implantat zum Verschließen von Defektöffnungen im menschlichen oder tierischen Körper“. Im Monat werden hier rund 250 solcher „Herzpflaster“ gehäkelt und über eine Firma in Köln auch in Deutschland vertrieben. „Deutsche Kinder bekommen Implantate made in Bolivia“, sagt der 53-Jährige.

In Bolivien werden die Operationen meist über eine Stiftung finanziert. Da ein Implantat bis zu 5000 Euro kostet, können hier im Schnitt nur etwa drei Kinderherzen pro Monat gerettet werden. Eine der Glücklichen ist Damary Pairo, 13 Jahre alt. Alexandra Freudenthal ist bei der Ultraschall-Nachuntersuchung sichtlich zufrieden. „Zuvor war ich ständig krank, nach ein paar Schritten außer Atem“, erzählt Damary. Nun könne sie endlich ein normales Leben führen.

Der Kardiologe und Erfinder Franz Freudenthal im Hof seines Herzzentrums in der bolivianischen Stadt La Paz © dpa

Indigene Frauen weben High-Tech-Lösungen

Im Mai bekam Freudenthal den Preis der KAAD-Stiftung Peter Hünermann zugeteilt. In der Laudatio hieß es, er sei Träumer und Erfindergeist zugleich: „Seine medizintechnischen und kardiologischen Leistungen sind keine kostspieligen europäischen High-Tech-Lösungen. Nein, sie sind auch möglich gemacht worden durch die Einbeziehung andiner Traditionen und der Fertigkeiten indigener Weberinnen.“

Selbst beim Teetrinken fuchtelt Freudenthal mit einem Katheter herum, um das Abwerfen des Implantats zu demonstrieren. Positiv verrückt. Dann rennt er wieder los, durch das Labyrinth seiner Ideen.

Von Georg Ismar (dpa)