Die Filmbranche nutzt Hochgeschwindigkeitskameras, um Trickfiguren realistische Bewegungen zu verleihen. Ärzten helfen sie dabei, Krankheiten besser zu verstehen – die Ganganalyse im Labor.
Als Tanya Markova zwölf Jahre alt war, änderte sich ihr Leben auf einen Schlag. Wegen einer seltenen Infektion des Rückenmarks war die Bulgarin von einem Moment auf den anderen komplett gelähmt. „Ich wachte eines Tages auf, wollte meine Klamotten anziehen und zur Schule gehen“, berichtet die heute 24-Jährige. Doch plötzlich habe sie einen starken Schmerz im Rücken gespürt und sich noch einmal ins Bett gelegt. Als sie zwei Stunden später aufstehen wollte, konnte sie weder Arme noch Beine bewegen.
Viele Jahre, monatelange Rehas und zwei Operationen brauchte die Studentin, um sich zurück in ein halbwegs normales Leben zu kämpfen. Eine genaue Analyse ihres Ganges im Labor soll sie weiter voranbringen.
Tanyas rechte Oberschenkelmuskulatur spannt sich zu stark an
Denn noch heute macht der 24-Jährigen das rechte Bein Probleme. Tanya kann nur langsam gehen, mühsam setzt sie einen Fuß vor den anderen. Eine weitere OP soll ihr nun helfen. „Ich möchte endlich wieder rennen können. Ich träume jede Nacht davon“, sagt die junge Frau.
Ihre Ärzte vom Krankenhaus Rummelsberg in Schwarzenbruck bei Nürnberg setzen dafür auf ein Labor zur Ganganalyse. In dem großen Raum sind acht Hochgeschwindigkeits-Kameras mit jeweils zwei Megapixeln Auflösung installiert. Sie nehmen 100 Bilder pro Sekunde auf – viel mehr, als das menschliche Auge wahrnehmen kann. So entsteht ein dreidimensionales Bild von Tanya am Computer, das die Ärzte in ganz langsamer Zeitlupe und aus allen möglichen Blickwinkeln betrachten können. Sechs Kameras hängen unter der Decke, zwei auf Hüfthöhe.
Tanya muss für die Analyse einige Male im Raum auf und ab gehen. Der Sportwissenschaftlerin Verena Hirschmann und dem Orthopäden Walter Strobl helfen die Bilder bei der Diagnose. „Eine Patientin wie Tanya muss man genau analysieren“, sagt Strobl. Das Ergebnis bei Tanya: Die Muskulatur im rechten Oberschenkel spannt sich zu stark an, ihre Fußhebemuskeln dagegen sind zu schwach. Bei einem Eingriff soll der eine Muskel nun gedehnt und der andere verkürzt werden.
Bewegungsanalysen sind keine Neuheit
Die meisten Labors arbeiten mit Infrarot und reflektierenden Markern, die auf die Haut des Patienten geklebt werden. Auch in Rummelsberg mit der Kameratechnik kommen die Plastikkugeln noch standardmäßig zum Einsatz. „Wir wollen aber von den Markern wegkommen und künftig die Silhouette des Patienten analysieren“, sagt Strobl. „Dafür sammeln wir als eines der ersten Zentren weltweit Erfahrungen.“ So soll die Untersuchung einfacher werden. Denn bei manchen Menschen mit starken Lähmungen ist es schwierig, sie mit den vielen kleinen Plastik-Kugel zu bekleben. Neue Software erkennt die Gelenkpunkte auch ohne Marker. Für wissenschaftliche Studien seien diese Bilder jedoch noch nicht zu verwenden.
Diese Technik ohne Marker habe klare Vorteile, sagt Dieter Rosenbaum vom Universitätsklinikum Münster: „Man muss die Leute nicht bis auf die Unterwäsche ausziehen, es geht schneller und man hat die Hoffnung, dass es auch günstiger ist.“ Nun müssten die Rummelsberger zeigen, dass ihre Ergebnisse vergleichbar sind.
Gang- oder Bewegungsanalyselabors sind nicht neu. Schon in den 1960er Jahren habe es erste Ansätze dazu gegeben, sagt Strobl. Bei der Gesellschaft für die Analyse Menschlicher Motorik in ihrer klinischen Anwendung (Gamma) sind 18 Labors in Deutschland registriert, außerdem vier in Österreich und der Schweiz. Einige Labors, wie das in Münster, sind hier jedoch nicht verzeichnet.
Die Daten werden interdisziplinär ausgewertet
Genutzt werden sie vor allem bei schweren Fehlbildungen, Muskelschwächen und Gangstörungen, wie sie Patienten mit Kinderlähmung, Parkinson oder nach einem Schlaganfall haben. Im etwa 250 000 Euro teuren Labor in Rummelsberg werden etwa 20 Analysen pro Woche gemacht. „Die Ganganalyse muss aber immer mit einer medizinischen Untersuchung kombiniert werden“, betont Strobl.
Felix Stief von der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim in Frankfurt sagt: „Das Wichtigste ist, dass man die Daten interdisziplinär betrachtet – am besten mit einem Arzt, einem Physiotherapeuten oder Sportwissenschaftler oder auch mit einem Physiker.“ Einer der entscheidenden Vorteile der Laboranalyse im Vergleich zur normalen Diagnostik: Die Daten seien objektiv. Sie geben etwa genaue Winkelwerte an. Wie stark rotiert die Hüfte nach innen? Wie stark pendelt der Oberkörper? „Damit kann man der Krankenkasse auch nachweisen, ob eine Behandlung etwas gebracht hat“, sagt Stief.
Tanya erhofft sich von der OP endlich wieder ein „normales Leben“. Sie will später Kinder haben. „Und da muss man doch auch mal schnell laufen können“, sagt sie.
Von Catherine Simon (dpa)