Kids unter Druck

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Schon Kinder leiden unter psychischen Störungen. Oder sind gefährdet. Einer bundesweite Studie zufolge gilt das für jedes fünfte Kind, eine bayerische kommt auf jedes vierte. Klar ist: Die Belastung der Kids steigt – sie wird aber auch ernster genommen als früher.

Die Matheprüfung. Ein Berg von Hausaufgaben. Bauchweh. Angst. Leistungsdruck kommt immer öfter und immer früher bei Kindern an. Sie müssen häufiger Trennungen der Eltern verkraften. Oder Mobbing. Hänselten sich Schüler früher auf dem Pausenhof, so sind Gemeinheiten heute oft unauslöschlich im Internet manifestiert. Der Selbstmord der Kanadierin Amanda Todd, die als Zwölfjährige arglos in einem Chat per Webcam vor einem Fremden ihren Oberkörper entblößte und sich nach der Veröffentlichung der Fotos durch den Mann im Alter von 15 Jahren umbrachte, hat Schlagzeilen gemacht.

Haben Kinder und Jugendliche es heute schwerer? Sind sie psychisch kränker? Studien weisen in diese Richtung. Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) legte am Mittwoch einen Bericht vor. Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und von Krankenkassen ergaben: Rund ein Viertel der Heranwachsenden hat psychische Probleme oder Entwicklungsstörungen.

„Ich habe abends oft Angst“

Das Robert Koch-Institut kam in einer 2014 veröffentlichten Erhebung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu dem Schluss, dass ein Fünftel Anzeichen für psychische Auffälligkeiten hat.

Die Zahlen wirken erschreckend. Sie bedeuteten aber nicht, dass jedes vierte – oder fünfte – Kind krank sei, sagt Professor Berthold Koletzko vom Haunerschen Kinderspital der Universität München. Es handele sich um Auffälligkeiten. „Solche Dinge werden heute ernster genommen.“ Und damit öfter festgestellt. „Es ist aber auch so, dass Kinder mehr Belastungen haben.“

Stress: „Manchmal, wenn wir so viele Hausaufgaben aufhaben und viel lernen müssen, dann fühle ich mich unter Druck“, sagt der elfjährige Kilian. Er gönnt sich dann eine Pause. Noah (8) hat Angst „vor Alpträumen und wenn ich abends alleine ins Bett muss“. Jonathan (7) treibt die Lage in der Welt um. „Ich habe Angst vor einem Krieg. Weil da ganz viele Menschen sterben. Weil sie mit Pistolen und Gewehren schießen. Ich denke oft über die Toten nach.“ Am liebsten, sagen sie, sind sie zuhause oder bei Freunden. Kilian: „Am wichtigsten ist, dass ich Zeit habe.“ Lange Schultage, wenig Freizeit.

Vorsicht bei den Grenzwerten

Koletzko sagt: „Man muss mehr tun in der Prävention – Kinder, Jugendliche und Familien unterstützen und stärken, und die Belastung in der Schule mindern.“ Schulangst, Schlaf- und Lernprobleme, Essstörungen. Hyperaktivität, Antriebsschwäche. Die Spanne ist breit. Wissenschaftler beschreiben eine „neue Morbidität“, mit einer Verschiebung von körperlichen Krankheiten hin zu Problemen bei psychischer Entwicklung, Emotionalität und Sozialverhalten.

Der bayerischen Studie zufolge sind bei Klein- und Vorschulkindern Entwicklungsstörungen die häufigste Diagnose. Zwischen 7 und 14 Jahren gewinnen Verhaltens- und emotionale Störungen an Bedeutung. Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS macht gut die Hälfte der Diagnosen aus. Bei den 15- bis unter 18-Jährigen kommen Depressionen dazu. Koletzko warnt gerade bei ADHS vor voreiligen Schlüssen. „Diese Diagnose ist sehr schwer zu stellen. Die Abgrenzung zwischen einer Überlastung und einer echten Krankheit ist nicht immer einfach.“

Der Münchner Therapeut Klaus Neumann sagt: „Man sollte vorsichtig sein, was man misst.“ Würden etwa Grenzwerte für Cholesterin verändert, „weist die Statistik prompt nach, dass die Cholesteringefährdung enorm zugenommen hat“.

Die Besorgnis der Eltern wächst

Auch Neumann sieht eine zunehmende Belastung. Und: „Dazugehören verläuft immer mehr über Äußerlichkeiten“, sagt der Beauftragte für Kinderrechte im Berufsverband Deutscher Psychologen. „Wir haben im Moment mit der Gesellschaft einen Kampf auszustehen, was wirklich zählt. Und da sind die Kids allein gelassen. Alte Rollenbilder sind ins Wanken gekommen. Aber es hat sich noch nichts Neues etabliert.“ Neumanns „Diagnose“: „Die Pathologisierungsgrenze ist nach unten gesenkt. Die Besorgnisintensität von Eltern ist nach oben gestiegen.“

Koletzko verweist immerhin auf Verbesserungen beim Rauchen und beim Alkohol. Bei Jugendlichen gab es nach Daten der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zuletzt einen Rückgang von Klinikeinweisungen wegen übermäßigen Trinkens. Der Anteil der Raucher von 12 bis 17 Jahren sank nach jüngsten Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf einen historischen Tiefstand von 7,8 Prozent. Koletzko: „Das sind Erfolge der Prävention.“

Von Sabine Dobel (dpa)