Vor gut 20 Jahren ging ich auf die Charlotte-Salomon-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. Schon damals – also noch vor Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 und dem damit verbundenen Recht auf Inklusion – wurden hier alle Kinder gemeinsam unterrichtet, egal ob mit „Behinderung“ oder ohne. Was heute für alle Schulen verpflichtend ist, war zu dieser Zeit noch die Ausnahme. Ich traf mich mit zwei meiner ehemaligen Lehrerinnen, Ingeborg Trupp und Anke Böschen, und fragte sie, was sich in den letzten Jahren durch die Inklusion verändert hat.
Stella Hombach: Anke, als du damals anfingst, in unserer Klasse zu unterrichten, warst Du gerade mal 30 Jahre alt, also kaum älter, als ich jetzt bin. Kanntest Du da schon das Thema Integration?
Anke Böschen: Durch mein Studium in Bremen, wo damals schon integrative Formen ausprobiert wurden, hatte ich ein bisschen Erfahrung. Aber klar: Das war in der Realität dann schon eine Herausforderung. Ich war ja sogar eure Klassenlehrerin. Ohne Ingeborgs Unterstützung hätte ich mir das auch gar nicht zugetraut.
Ingeborg Trupp: Ich bin froh, dass ich dich überreden konnte.
In der Charlotte-Salomon-Schule werden Kinder mit speziellem sonderpädagogischen Förderbedarf seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreich integriert. Hat sich durch das gesetzlich verankerte Recht auf Inklusion überhaupt etwas am Unterricht geändert?
Trupp: Bevor wir uns über die Veränderungen unterhalten, sollten wir erst mal klären, wie sich die Begriffe Integration und Inklusion voneinander unterschieden.
Inklusion eröffnet neue Perspektiven
Gerne …
Trupp: In der Integration wurde ein Kind noch bezüglich seiner Defizite betrachtet. Es ging zuerst darum, Nachteile auszugleichen. In der Inklusion stehen hingegen die Potenziale der Kinder im Vordergrund. Egal, ob nun ein körperlich gesunder Junge eine „Lernschwäche“ hat oder ein hochbegabtes Mädchen im Rollstuhl sitzt – jeder hat gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Förderung. In der Konsequenz wird also nicht zwischen einem Kind mit oder ohne Förderbedarf unterschieden. Jedes Kind ist inklusiv. Das ist eine vollkommen neue Betrachtung und tatsächlich hat sich in den letzten Jahren eine Menge in den Schulen geändert.
Was bedeutet das für euren Unterricht?
Böschen: Konzeptionell ist das Umdenken der Bildungspolitiker für uns kein Problem. Es geht eher um die praktische Seite, denn jedes Kind hat nun das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Das freut uns, hat aber auch Konsequenzen: Früher hatten wir höchstens drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Klasse, heute können es bis zu fünf sein.
Trupp: Wir sind gespannt! Anfang Februar hat der Senat 120 neue Vollzeitstellen für sonderpädagogischen Förderbedarf geschaffen und im August kommen weitere 120 hinzu. Damit wären die Berliner Schulen erstmals bedarfsgerecht ausgestattet. Da ich vorher in Rente gehe, werde ich den Unterschied leider nicht mehr mitbekommen. Aber Anke wird mir sicher davon erzählen.
Böschen: Auf jeden Fall.
Behindertenrechts-Konvention
Die Behindertenrechts-Konvention wurde 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedet und trat drei Jahre später in Deutschland in Kraft. Der Artikel 24 erkennt das Recht behinderter Menschen auf Bildung an. Ausgehend vom Prinzip der Gleichberechtigung soll die Bildung auf allen Ebenen stattfinden und ein lebenslanges Lernen umfassen. Menschen mit einer Behinderung dürfen demnach nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Derzeit lernen 53.000 behinderte Schüler an Sonderschulen und haben Eltern die Wahl, ob sie ihr Kind auf eine Sonder- oder Regelschule schicken wollen.
Ohne Erfahrung geht es nicht
Wie müsste eine inklusive Verteilung der Stunden aussehen?
Böschen: Da in der Inklusion jedes Kind denselben Anspruch auf Förderung hat, sollten verlässlich zwei Lehrer/innen pro Klasse zuständig sein. Dann könnten alle Kinder gut beschult werden.
Trupp: Für Inklusion braucht es die notwendigen Mittel und Ressourcen. Wir haben in der Charlotte-Salomon-Grundschule mehr als 20 Jahre Erfahrung auf dem Gebiet, wir können mit unseren Kapazitäten umgehen und auch mal improvisieren. Andere Schulen müssen dieses Erfahrungswissen erst noch aufbauen.
Hat sich in den letzten Jahren hier etwas verbessert?
Trupp: Früher mussten wir ein Kind, das im Rollstuhl saß entweder die Treppen hochtragen oder aber die Klasse ins Erdgeschoss verlegen. Heute haben wir einen Fahrstuhl. Aber Spaß beiseite: Der inklusive Ansatz ist vollkommen richtig! Und auch wenn in der Praxis noch nicht alles zufriedenstellend ist, so sind wir doch auf einem guten Weg.
Böschen: In der Realität zeigt sich, wie wichtig das gleichberechtigte Miteinander ist. Kinder haben kaum Berührungsängste und je enger sie miteinander in Kontakt sind, desto natürlicher empfinden sie den Umgang. Der Rollstuhl des Tischnachbarn spielt da irgendwann keine Rolle mehr, der gehört einfach dazu.
Trupp: Natürlich merken die Kinder, dass sie sich voneinander unterscheiden. In der Regel funktioniert das allerdings sehr gut. Schwierig ist es manchmal bei Kindern mit kognitiven Einschränkungen.
Aus dem Bauchgefühl wird Struktur
Warum gerade bei ihnen?
Trupp: In der ersten Klasse sind die Entwicklungsunterschiede meist minimal, da merken viele den Unterschied oft selbst nicht. Spätestens beim Lesen und Schreiben merken sie jedoch, dass sie langsamer, sprich irgendwie „anders“ sind.
In unserer Klasse gab es damals ein Mädchen mit Down-Syndrom. Sie hieß Ayse*. Ich kann mich erinnern, dass uns nie erklärt wurde, was es mit dem Down-Syndrom eigentlich auf sich hat. War das eine bewusste Entscheidung?
Trupp: Das war die Entscheidung der Mutter. Sie wollte nicht, dass darüber geredet wird.
Böschen: Da gibt es auch kein Patentrezept. Manchmal erklären wir den Kindern, warum jemand im Rollstuhl sitzt oder ein Asthmagerät benutzt, manchmal nicht. Wie wir vorgehen, entscheiden wir immer in Absprache mit den Eltern.
Warum lachst du Anke?
Böschen: Mir ist gerade eingefallen, wie Ayse mich einmal im Unterricht ans Tischbein gebunden hat. An dem Tag hatten wir uns alle als Tiere verkleidet, weil sie die so gern hatte. Ich war ihr Pferd. Als der Schulleiter zufällig vorbeikam, dachte er, ich sei vollkommen irregeworden. Das würde heute nicht mehr passieren.
Gemeinsam Lernen
Wieso nicht?
Trupp: Damals haben wir einfach viel mehr aus dem Bauch heraus gearbeitet. Als wir erfahren haben, dass Ayse umzieht und künftig mit der U-Bahn zur Schule fahren muss, haben wir das Ein- und Aussteigen noch im Flur geübt und sind mit der „U7“ durch den ganzen Korridor gefahren. Heute arbeiten wir viel strukturierter, haben für so etwas jedoch kaum noch Zeit.
Wie ist es mit den jahrgangsübergreifenden Klassen: Ein-, Zweit- und Drittklässler lernen ja jetzt gemeinsam?
Trupp: Mir gefällt das Konzept. Gerade für Kinder wie Ayse wäre das gemeinsame Lernen mit Jüngeren oft leichter gewesen. Für das Lesen und Schreiben hätte sie beispielsweise nicht nur ein, sondern bis zu drei Jahre Zeit gehabt. Außerdem erleben wir es in dieser Konstellation immer wieder, dass auch mal ein Kind mit Down-Syndrom in die Rolle des Erklärenden kommt und einem Neueingeschulten beim Lernen hilft. Fürs Selbstvertrauen ist das unheimlich wichtig und es fördert das Miteinander.
Böschen: Das gemeinsame Lernen ist der richtige Weg. Wichtig ist nur, dass dieser natürliche Umgang nicht an der Schultür aufhört.
*Aus rechtlichen Gründen ist der Name des Kindes von der Redaktion geändert.