Leben mit Behinderung in Palästina

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In der palästinensischen Gesellschaft gibt es wegen häufiger Ehen zwischen engen Verwandten viele behinderte Kinder. Eine deutsche Organisation eröffnet ihnen die Chance auf ein eigenständiges Leben.

Der kleine Palästinenserjunge Mohammed aus Bethlehem ist Autist. Ganz versunken spielt der Sechsjährige in einem christlichen Rehabilitationszentrum im Nachbarort Bet Dschala mit Bauteilen. Er hatte Glück im Unglück: Sozialhelfer fanden den verwahrlosten Jungen auf einem zwei Meter hohen Schrank. Sein gewalttätiger Vater hatte ihn dorthin verbannt, weil er nicht wusste, wie er mit seiner Störung umgehen soll.

In einem Spielzimmer der deutschen Nichtregierungsorganisation Lifegate (Tor zum Leben) stapelt Mohammed ruhig einen Konus auf den anderen und schaut dabei immer wieder seine Therapeutin an. „Dass er heute Blickkontakt hält, ist wie ein Wunder“, sagt der Leiter der Einrichtung, Burghard Schunkert. Inzwischen lebe der Junge zu seinem Schutz in einem örtlichen Kinderheim und komme nur zur Therapie in das Reha-Zentrum.

Lebenstore öffnen

Die 1991 gegründete Organisation ist ein Paradebeispiel für praktische Umsetzung christlicher Nächstenliebe. Deutsche und Palästinenser arbeiten hier zusammen, um behinderten Kindern und Jugendlichen im Westjordanland zu helfen. Unter den 65 Beschäftigten sind Christen verschiedener Konfessionen, aber auch Muslime. „Wir wollen Lebenstore öffnen, für Kinder und junge Menschen mit Behinderung“, erläutert Schunkert, der aus Gießen stammt.

Der Sozialarbeiter lebt und arbeitet schon seit 1987 in der Region – dem Jahr, in dem in den von Israel besetzten Gebieten der erste Palästinenseraufstand Intifada ausgebrochen war. Seine Frau, eine deutsche Physiotherapeutin, arbeitet ebenfalls in der Reha-Klinik.

Stück für Stück und in mühseliger Arbeit baut Schunkert sein Lebenswerk immer weiter aus. 2012 ist Lifegate in ein größeres, mehrstöckiges Gebäude umgezogen. Ein Kindergarten bietet Platz für 35 Kinder, eine Schule für 50. Die Zahl der Schulkinder soll sich verdoppeln, wenn ein neuer Flügel des Gebäudes Anfang kommenden Jahres fertiggestellt wird. In zehn Klassen lernen Kinder von 6 bis 16 Jahren, in kleinen Gruppen und mit jeweils zwei Lehrerinnen. Lifegate hat außerdem noch eine Werkstatt zur Berufsausbildung und eine Therapieabteilung.

Heiraten in der Großfamilie

In den Palästinensergebieten gebe es von öffentlicher Seite „noch fast gar keine Angebote“ für Behinderte, sagt Schunkert, der beim Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) in Kassel angestellt ist. Dabei seien Behinderungen gerade in der palästinensischen Gesellschaft ein häufiges Phänomen. „Es gibt viele Kinder, die von Geburt an behindert sind.“ Der Grund seien traditionelle Vetternehen. „Wir haben das Problem, dass immer wieder in den gleichen Großfamilien geheiratet wird.“ Dies führe gehäuft zu genetischen Problemen.

Lifegate setze sich seit Jahren dafür ein, dass Mütter bei den meist arrangierten Ehen ihrer Kinder „mal gucken, ob es jemand anders sein könnte, nicht ein Cousin“. Man kämpfe dabei aber „gegen eine jahrhundertealte Tradition“. Palästinenser heirateten unter anderem innerhalb des eigenen Stammes, um durch die Anzahl der Kinder dazu beizutragen, dass die eigene Großfamilie mächtiger werde.

„Je enger es wird in diesen Verwandtschaftsehen, desto mehr Kinder mit Behinderungen werden geboren.“ Es häuften sich viele Syndrome, beispielsweise Gehörlosigkeit und Spina bifida (Fehlbildung der Wirbelsäule). Bemühungen zur Aufklärung noch vor einer Eheschließung und Schwangerschaft verliefen aber nur zäh. „Wir haben bei Lifegate zweimal Schwangerschaftsvorbereitungskurse angeboten. Da kam niemand.“ Die Tochter lerne in der palästinensischen Gesellschaft immer noch lieber von der Schwiegermutter.

Betroffen sind vor allem die Armen

Die behinderten Kinder kämen oft aus sehr armen Familien, erzählt Schunkert. Ein voller Förderplatz bei „Lifegate“ koste 400 Euro im Monat. „Wir bitten die Eltern, 30 bis 40 Euro beizutragen. Viele Familien können aber auch das nicht leisten.“

98 Prozent der Patienten seien Muslime, nur etwa zwei Prozent Christen – wie der Prozentsatz in der palästinensischen Bevölkerung allgemein. Viele Christen wandern wegen der schwierigen Bedingungen aus dem Heiligen Land aus, viele gehen nach Chile und Uruguay.

Bei der Abklärung der medizinischen Probleme arbeite Lifegate sehr eng mit der israelischen Rehabilitationsklinik Alyn in Jerusalem zusammen, erzählt Schunkert. Allgemein äußert er sich trotz der Blockademaßnahmen im Westjordanland sehr positiv über die Zusammenarbeit mit den Israelis.

Inklusionsverordnung wird kaum umgesetzt

Nach der Diagnose hält Lifegate eine ganze Palette von Behandlungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche bereit: Von Physio- und Ergotherapie über Sprach- und Musiktherapie bis Hydrotherapie und sogar Snoezelen (Methode zur Beruhigung und Entspannung). Therapeuten holen die Kinder immer wieder zur Einzelarbeit aus den Klassen. „Jedes Kind braucht individuelle Zuwendung“, sagt Schunkert. Auch passende Rollstühle für Kinder und Jugendliche werden bei Lifegate speziell angefertigt.

In der Berufsausbildungswerkstatt werden rund 40 junge Menschen in zwölf Handwerksberufen ausgebildet – zum Beispiel Arbeiten an Strickmaschinen, Sticken, Schreinern oder Kochen. Die Vielfalt an kleinen Werkstätten, in denen sehr sorgfältig gearbeitet wird, ist für Besucher beeindruckend. „Ziel ist es, dass sie nachher auf dem freien Markt Arbeit finden, vielleicht selber eine kleine Werkstatt eröffnen“, sagt Schunkert.

Der palästinensische Markt habe ohnehin mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. „Es reißt sich natürlich niemand um behinderte Menschen.“ Eine Inklusionsverordnung der Palästinenserbehörde werde leider kaum umgesetzt. Schon in den öffentlichen Schulen sei dies ein Problem. Auch dort bemühe „Lifegate“ sich bei Besuchen und regelmäßigen Begegnungen um Aufklärung. „Unter den Kindern sind die Berührungsängste nach dem zweiten Treffen nicht mehr da“, erzählt Schunkert. Probleme gebe es eher mit den Eltern, die ein niedrigeres Klassenniveau befürchteten.

Die Organisation bleibt auf Spenden angewiesen

Der größte Teil der Mittel für Lifegate kommt aus Spenden. In Deutschland werden aber auch Produkte wie Stickwaren, Olivenholzfiguren, Keramik und Olivenöl verkauft. Mit dem Erlös könne die Organisation „40 junge Menschen das ganze Jahr über in Arbeit halten“. Man könne auch Behinderte mit Arbeit versorgen, die sonst keinen Job finden. „Ich finde, als Christen haben wir die Aufgabe, alle Menschen liebzuhaben und das, von dem wir überzeugt sind, in Liebe rüberzubringen.“ Dies wirke dann auf andere „hoffentlich ansteckend“.

Im benachbarten Bethlehem laufen die Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest, und die Verkäufer hoffen trotz der jüngsten Gewaltwelle auf viele Besucher aus aller Welt. Die Geburtskirche, in der laut Überlieferung Jesus geboren wurde, wird weiter renoviert. Auf dem anliegenden Krippenplatz steht ein riesiger geschmückter Weihnachtsbaum, davor eine Weihnachtskrippe mit großen Holzfiguren.

Vor Weihnachten hofft Schunkert auch auf einen größeren Verkauf und mehr Spenden für seine Einrichtung. „Natürlich ist die Weihnachtszeit eine Zeit, wo die Menschen mehr geben.“ Bei dem Aufbau des neuen Zentrums hätten mehrere Organisationen geholfen, unter anderem die bayerischen Sternstunden und Misereor. Die Finanzierung bleibe jedoch auch nach Jahrzehnten der Arbeit schwierig, es sei jeden Monat eine „Zitterpartie“. „Wir leben von der Hand in den Mund und haben keine hohe Kante. Wenn mein Vertrauen in Gott nicht wäre, wäre ich wohl schon längst über den Jordan.“

Von Sara Lemel (dpa)