“Mein Haus passt auf mich auf”

Seit über 18 Jahren entwickelt Prof. Birgit Wilkes neue technische Lösungen für ein “besseres” Zuhause. Sie lehrt und forscht an der Technischen Hochschule Wildau und leitet dort das Institut für Gebäudetelematik. Kürzlich wurde in Berlin eine Musterwohnung eingeweiht, an deren Konzeption sie maßgeblich mitgewirkt hat.

Redaktion: Moderne Technik wird immer mehr Funktionen in unseren Wohnungen übernehmen. Was treibt die Entwicklung eigentlich an?

Wilkes: Die Computertechnik ist sicher ein entscheidender Faktor: Sie ist mittlerweile in so ziemlich jedem Bereich anwendbar und bezahlbar – das eröffnet einen Markt für Hersteller und Entwickler.

Aber welche Lösungen wollen die Menschen?

Vor einiger Zeit haben mein Team und ich einen vernetzten Generalausschalter für Steckdosen entwickelt. Wir hatten zuvor in einer Studie festgestellt, dass sich unheimlich viel Energie sparen lässt, wenn die Leute beim Verlassen ihrer Wohnung die elektrischen Geräte wirklich ausmachen und nicht nur auf Stand-by schalten. Als ich den fertigen Schalter präsentierte, waren die Anwesenden begeistert. Allerdings aus vollkommen anderen Gründen als wir gedacht hatten.

© Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN

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Birgit Wilkes ist Professorin für Telematik und Leiterin des Instituts für Gebäudetelematik an der TH Wildau bei Berlin. Sie ist Expertin für energieeffizientes Wohnen und entwickelt seit den 1990er Jahren smarte Gebäudetechnologien, die älteren wie jungen Menschen den Alltag erleichtern.

Wieso das?

Ein älterer Mann freute sich, dass er nun endlich alle Geräte mit einem einzigen Handgriff ausschalten konnte. Ihm ging es also um Komfort und Bequemlichkeit. Später unterhielt ich mich mit einer Frau, der war es wichtig, dass sie nun zu 100 Prozent sicher sein konnte, ihren Herd wirklich ausgemacht zu haben. Übrigens eine junge Frau. Die meisten hatten offenbar sehr handfeste Anwendungen im Kopf. Unsere Intention, Energie einzusparen, war den Leuten vielleicht nicht völlig, aber doch ziemlich egal.

Wichtig ist also, was jeder individuell von Technik erwartet?

Absolut. Es geht um die Funktionalität, um den persönlichen Nutzen. Auf dem Markt gibt es viele innovative Produkte und in Zeitungen wird ununterbrochen über das “smarte Wohnen” philosophiert …

Smarte Toiletten

… etwa über intelligente Toiletten, die kontrollieren, ob wir genug und das Richtige trinken …

Solche Meldungen nerven mich. Forschung ist richtig und wichtig, aber es gibt schon viele Produkte, die marktreif und einsetzbar sind. Auch auf Fachkongressen und in der Presse wird lieber über das gesprochen, was in zehn Jahren möglich sein wird, als darüber, wie wir das heute schon Mögliche zu den Menschen bringen. Übrigens existiert die “intelligente” Toilette bislang nur als Prototyp in einem Forschungsprojekt, kaufen kann man sie nicht.

Interessant wäre sie aber schon, oder?

In einigen Jahren werden sicher immer mehr telemedizinische Geräte wie die Analysetoilette in unsere Wohnungen einziehen. Das ist sinnvoll und nützlich, wird aber nur für Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern notwendig sein. Geht es nur ums Trinken, gibt es auch einfachere Möglichkeiten, Menschen daran zu erinnern. Genau hier grenzt sich die Telemedizin vom Ambient Assisted Living ab, was man mit alltagsunterstützende Assistenzlösungen übersetzen könnte. Darunter verstehe ich technische Lösungen, die allen oder zumindest vielen Menschen nützen.

Unterscheiden sich die Bedürfnisse einer Familie nicht grundlegend von denen etwa eines 70-jährigen Singles?

Das sollte man meinen. Aber denken Sie mal an Rollator und Kinderwagen. Beides muss transportiert und untergebracht werden – so unterschiedlich sind die Bedürfnisse gar nicht. Auch das Klischee, dass Alter und Technik nicht zusammenpassen, ist längst überholt. Heutzutage sind Rentner sehr gut informiert und haben oft sogar einen höheren Anspruch an Technik als Jüngere. Natürlich haben wir bei schwer pflegebedürftigen oder stark körperbehinderten Menschen besondere technische Anforderungen. Den Alltag zu erleichtern oder zu vereinfachen, ist aber für jeden von uns interessant.

Ermündigung

Birgit Wilkes ist Schirmherrin des Projekts Ermündigung zum selbstbestimmten Wohnen, das von der OTB GmbH, einem Dienstleister in der Gesundheits- und Hilfsmittelbranche, initiiert wurde. Zusammen mit 50 anderen Partnern aus Forschung, Industrie und Dienstleistung haben sie eine Musterwohnung entworfen, in der jeder Besucher intelligente Systeme im Wohnbereich unter realen Bedingungen anschauen und ausprobieren kann. Die 140-Quadratmeter-Wohnung wurde Ende 2014 in Berlin-Marzahn eröffnet.

Haben Sie ein Beispiel?

In der Musterwohnung, die wir gerade in Berlin-Marzahn eröffnet haben, gibt es weit über hundert wirklich praktikable Anwendungen: Das reicht von einfachen Alltagshilfen bis zu elektronisch höhenverstellbaren Küchenschränken samt Herd, oder von der indirekten Nachtbeleuchtung für den sicheren Weg vom Bett ins Bad bis hin zur komplett digitalen Steuerung von Heizung und Überwachung der Luftfeuchtigkeit in allen Räumen. Das Badezimmer ist übrigens komplett behinderten- und pflegegerecht ausgestattet, man fühlt sich aber trotzdem wie in einer modernen Designerwohnung.

Vieles von dem, was man sich dort ansehen kann, hat aber schon mit der Unterstützung von älteren oder behinderten Menschen zu tun?

Natürlich. Ich mag den Begriff zwar nicht wirklich, aber diese Zielgruppen haben eine Vorreiterrolle. Das gilt insbesondere für die sogenannten Best Ager. Sie sind für Entwickler und Unternehmen hochinteressant. Ihre Anzahl wächst, sie verfügen über Geld und sie haben klar definierte Bedürfnisse.

© Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN

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Mehr Unabhängigkeit beim Wohnen

Sie haben vorhin vom “sicheren Weg” gesprochen. Spielt das Thema Sicherheit in der eigenen Umgebung für Ältere eine große Rolle?

Absolut. Da geht es vor allem um die Angst zu stürzen und dann niemanden zu erreichen. Manchmal treibt das die Angehörigen noch mehr um als die Betroffenen selbst. Nicht selten ist das der Grund für die Suche nach einem Heimplatz.

Notrufanbieter gibt es doch viele.

Das ist nicht das Problem. Die seriösen verfügen alle über eine Zentrale, die rund um die Uhr besetzt ist. Dort sitzt geschultes Personal und organisiert im Notfall Hilfe. Allerdings ist die Technik dazwischen ziemlich altbacken.

Wieso das?

Den Notruf löst man selbst über einen meist großen und roten Knopf etwa am Armband aus. Das ist gut, aber es könnte besser sein. Vielleicht wäre es gar nicht zum Sturz gekommen, hätte jemand bemerkt, dass es mir schlecht geht, dass ich seit Tagen kaum noch esse und gegen meine Gewohnheiten den halben Tag im Bett liege.

Was kann Technik an dieser Stelle?

Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Beispielsweise kann ein Computerprogramm anhand von Geräuschen und der jeweiligen Lautstärke das individuelle Geräuschprofil eines Raumes erstellen. Gibt es beispielsweise in der Küche immer am Morgen in einem bestimmten Zeitraum Geräusche, ist das ein Indiz, dass sich der Bewohner Frühstück macht und alles in Ordnung ist. Wir sprechen da von einem lernenden Algorithmus – das System weiß dann untypisches von typischem Verhalten zu unterscheiden und benachrichtigt je nach Voreinstellung den Hausnotruf, die Familie oder einen Freund.

In einer Familie würde das aber nicht funktionieren?

Nein, aber wozu auch? Wichtig ist ein solches System vor allem für allein lebende ältere Menschen. Oder wenn beispielsweise eine junge Frau mit Down-Syndrom in eine eigene Wohnung zieht. Gerade zu Beginn beruhigt es die Eltern zu wissen, dass ihr Kind wirklich alleine zurechtkommt.

Wenn das System keine Unregelmäßigkeiten meldet, muss ich mich auch nicht bei Oma melden. Reduziert Technik so nicht auch den wichtigen sozialen Kontakt?

Der Kontakt bricht dadurch nicht ab, aber er verändert sich. Familien leben heutzutage meist nicht mehr Tür an Tür, sondern verstreut. Von Berlin aus kann ich mir nicht sicher sein, dass meine Mutter in Stuttgart an ihre Parkinson-Medikamente denkt. Eine mit Sensoren ausgestattete Tablettenbox kann mich darüber informieren, wenn sie heute nicht geöffnet wurde oder ob ich nachfragen sollte. Vor allem soll Menschen länger als bisher Selbstständigkeit und ein selbstbestimmtes Leben erhalten werden. Technik kann uns sehr helfen.

Sofern man sie nutzen kann und will.

Vor kurzem habe ich eine 80-jährige Frau kennengelernt, die mir von ihren zwei Söhnen erzählte. Der eine lebt in Israel, der andere in Argentinien. Begeistert erzählte sie mir, dass sie jeden Sonntag um Punkt neun Uhr gemeinsam frühstückten. Erst verstand ich nicht, wovon sie da redete. Aber dann verstand ich: Sie skypte bei bestem Appetit mit ihren Söhnen.