Schwangerschaft: Privat war gestern

© Isis Struiksma

© Isis Struiksma

Soziale Kontrolle gibt es auch in der Schwangerschaft. Neun Monate lang wird beobachtet, berechnet, dokumentiert und kontrolliert – und das längst nicht nur von der werdenden Mutter und ihrem Arzt. Dass jede Schwangerschaft anders verläuft und dass eine Frau nicht alles machen muss, was Vorsorge und Umfeld von ihr erwarten, wird dabei oft ignoriert. Ein Kommentar von Stella Hombach

Schwangere stehen heute unter scharfer Beobachtung. Was „richtig“ und was „falsch“ ist, wissen nicht mehr nur Ärzte, Hebammen und andere Mütter, sondern auch Nachbarn und andere vermeintlich Unbeteiligte. Egal ob Mann oder Frau – jeder, der das Wort „Schwangerschaft“ schon mal bei Google eingegeben oder eine werdende Mutter im Bekanntenkreis hat, fühlt sich berufen, seinen Rat zu äußern und sich einzumischen. Selbst die Kellnerin fragt bei der Bestellung lieber zweimal nach, ob die Schwangere tatsächlich einen normalen und keinen koffeinfreien Latte Macchiato möchte. In der Schwangerschaft hat plötzlich jeder ein Wörtchen mitzureden. 

Es liegt in ihrer Hand

Eine Schwangerschaft muss gestaltet werden – und zwar bestmöglich. Ausreden gibt es keine mehr – nicht bei dem heutigen Informationsstand. Denn jeder weiß: Nicht nur Zigaretten sind verboten, auch passives Mitrauchen ist untersagt. Bleibt eine schwangere Frau auf der Terrasse eines Restaurants neben einem Rauchertisch sitzen oder geht gar in eine Raucherkneipe, folgt schnell abschätziges Gemurmel. Auch der Salat kann eigentlich nur noch zu Hause gegessen werden. Wer weiß schon, ob das Restaurant das Gemüse wirklich ordentlich gewaschen und von allen Toxoplasmose-Bakterien befreit hat. Alkohol ist sowieso tabu – dicht gefolgt von Rohmilchkäse, Salami und Ingwertee.

Damit nicht genug. Auch vom Haarefärben wird Schwangeren abgeraten. Schließlich wisse niemand, wie die im Färbemittel enthaltenen chemischen Substanzen tatsächlich auf den Körper wirkten, heißt es in der Zeitschrift „Hallo Eltern“. Ebenso sollten zu heiße Bäder gemieden werden – sie könnten die Durchblutung des Uterus stören. Empfohlen wird eine Wassertemperatur von 37 °C. Vorsichtshalber isst die Schwangere auch dreimal pro Woche gebratenes Fleisch. So vermindert sie das Risiko des Eisenmangels, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Dass jede Frau während ihrer Schwangerschaft zunimmt und dass diese Gewichtszunahme je nach Ausgangsgewicht variiert, sei ihr gegönnt. Trotzdem gibt es auch hier Richtwerte. Beispielsweise empfiehlt die Deutsche Diabetesgesellschaft einer normalgewichtigen Frau mit einem Body-Mass-Index von 19 bis 26 eine Gewichtszunahme von elf bis 16 Kilo.

Nicht jeder Rat will befolgt sein

Doch ist es schlimm, wenn jemand statt der empfohlenen 16 nur sieben Kilo zunimmt? Was bedeutet „zu heiß“, wenn die Frau es seit Kindheitstagen gewohnt ist, bei 40 Grad zu baden? Warum sollte eine Schwangere, die nie viel Fleisch gegessen hat, plötzlich ihren Fleischkonsum verdoppeln? Klar, Rauchen ist tabu, aber muss man gleich den Tisch wechseln, wenn einen Meter weiter die Zigarette brennt?

Und: Wen geht das eigentlich etwas an? Früher beschwerte sich niemand, wenn sich die werdende Mutter bei der Weihnachtsfeier ein Glas Sekt genehmigte oder sich eine Zigarette anmachte. Das war privat und ihre Sache. Heute sollte sie sich lieber verstecken, sonst wird sie – noch bevor das Kind auf der Welt ist – zur Rabenmutter erklärt.

Setzt sich dieser Trend fort, darf eine schwangere Frau sich bald keine Nägel mehr lackieren. Wer weiß, welch schädliche Chemie im Lack steckt. Der Apfelsaft könnte zu viel Zucker enthalten und den Kamillentee sollte sie am besten nur noch bei lauwarmen 15 Grad trinken. Hält die werdende Mutter die Vorgaben nicht ein und ist ihr BMI bereits in der dreißigsten Schwangerschaftswoche zu stark angestiegen, wird sie von ihrer Versicherung hochgestuft.

Jede Schwangerschaft ist anders

Dass sich das Schwangersein nicht normieren lässt und sich nicht jede Veränderung berechnen lässt, wird im Dschungel der Richtwerte und Ratschläge oft vergessen. Dabei erlebt jede Frau die neun Monate – vielleicht sind es ja auch nur acht – anders. Die eine mit, die andere ohne Schwangerschafts-Yoga. Die eine bringt 20, die andere vielleicht nur acht Kilos mehr auf der Waage. Soll sie doch.

Heute sind die Lebensumstände der werdenden Mütter so unterschiedlich wie nie zuvor und haben sich die Rahmenbedingungen der Schwangerschaft immer weiter ausdifferenziert. Viele Frauen bekommen ihre Kinder nicht mehr zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig. Auch die Schwangerschaft mit vierzig ist dank In-vitro-Befruchtung (und neuerdings Social Freezing) keine Seltenheit mehr. Die eine ist Studentin, die andere selbstständig, die nächste arbeitslos. Die eine Frau baut gerade mit ihrem Mann ein Haus, die zweite hat den Vater ihres Kindes erst vor vier Wochen kennengelernt und bei der dritten liegen die Scheidungspapiere auf dem Tisch.

Für sie alle ist die Schwangerschaft ein wichtiger Einschnitt in ihrem Leben. Ihre Ausgangssituationen sind trotzdem kaum vergleichbar. Ratschläge und Richtwerte können zwar helfen sich zu orientieren, doch am Ende muss die Frau selbst entscheiden, an welchen Rat sie sich hält und an welchen nicht. Soll sie doch am Wein nippen oder sich mal ein paar Züge der Zigarette gönnen – das ist immer noch ihre Sache. Missbilligende Blicke, Besserwisserei und unnütze Kommentare sind nicht nur wenig hilfreich – sie sind Diktat und gehören sich einfach nicht.

 

Isis Isis Struiksma, geboren in Amsterdam, lebt und arbeitet seit 2013 als Illustratorin und Designerin in Berlin. Für das Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN wird sie 2015 die Texte in der Rubrik “Meinung” illustrieren.