Slammen für eine bessere Pflege

© Thorsten Strasas

© Thorsten Strasas

Missstände im Pflegesektor sind ein Dauerthema in Politik und Öffentlichkeit. Nur die Pflegekräfte selbst kommen kaum zu Wort. Das will Yvonne Falckner mit ihrem Projekt „Care Slam“ ändern.

„Wie werde ich mich fühlen, wenn ich alt bin und die Person, die mir beim Anziehen und Waschen hilft, nicht mehr erkenne?“ Sabrina Maar, die Frau, die sich diese Frage stellt, ist Mitte 20, hat schulterlange braune Haare und absolviert gerade eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Über die Frage, was Demenz für die Betroffenen bedeutet, hat die junge Frau ein Gedicht geschrieben, das sie nun beim fünften „Care Slam“ in Berlin-Friedrichshain vorträgt.

Anders als beim Poetry oder Science Slam wird bei der „Sorgenschlacht“ (eng. care bedeutet „Sorge“, „Pflege“, „Kümmern“) jedoch nicht um die Wette debattiert. Statt ums Gegeneinander geht es auf der Bühne der Alten Feuerwache um das Miteinander. Mal lustig, mal ernst, mal mit der Gitarre in der Hand erzählen Kranken-, Alten- und Kinderpfleger, was sie im Berufsalltag bewegt, und tauschen ihre Erfahrungen aus. „Der Care Slam“, sagt Yvonne Falckner, die die Veranstaltungsreihe vor einem Jahr ins Leben gerufen hat, „soll der Pflege eine Stimme geben.“

Was ist ein Poetry oder Science Slam?

Die sogenannte „Dichterschlacht“ ist ein literarischer Wettbewerb, bei dem die Teilnehmer selbst geschriebene Texte innerhalb einer bestimmten Zeit – meist nicht mehr als fünf Minuten – vortragen. Wer gewinnt, entscheidet am Ende das Publikum, manchmal auch eine Jury. Entscheidend ist dabei nicht nur die Qualität des Textes, sondern auch die Art, wie er vorgetragen und auf der Bühne inszeniert wurde. Der erste Poetry Slam fand 1986 in Chicago statt.

Das Format setzt sich durch, auch in anderen Disziplinen. So gibt es seit einigen Jahren beispielsweise den Science Slam, bei dem junge Wissenschaftler ihre Forschungsthemen auf die Bühne bringen. Der Hate Slam wiederum versteht sich als Leseshow gegen Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung im Allgemeinen. Hier lesen Journalisten Leserbriefe oder Blog-Einträge vor, die sie erhalten haben.

Hinaus mit dem Frust

Was man beim Poetry Slam bereits kennt, wird auch beim Care Slam deutlich: Der Bühnenauftritt baut Frust ab. Mit dem Mikro in der Hand können die Pflegekräfte Dampf ablassen und ihrem Herzen Luft machen. Über den ständigen Zeitdruck, dem sie während ihrer Schichten ausgeliefert sind, die hohe Verantwortung, die sie tragen, und die sich im Gehalt nicht widerspiegelt, die unregelmäßigen Arbeitszeiten, die mit dem Familienleben oft unvereinbar sind. Dabei lieben sie ihren Beruf und die Menschen, um die sie sich kümmern.

Dass in der Pflege viel schiefläuft, bestätigt auch Grit Genster, Bereichsleiterin für Gesundheitspolitik beim ver.di Bundesvorstand. „Umso wichtiger ist es“, sagt sie, „dass sich die Beschäftigten Gehör verschaffen.“ Schon heute hat beispielsweise gut jede zweite Pflegeeinrichtung Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage unter Arbeitgebern der Bertelsmann Stiftung.

Yvonne Falckner hat es sich inzwischen auf der Bühne bequem gemacht. Die 41-Jährige organisiert den Care Slam nicht nur, sie moderiert ihn auch. Neben ihr sitzt der Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, Markus Mai. Auf dem kleinen Holztisch, der zwischen ihnen steht, türmen sich die Verbandsutensilien. Auf dem Boden liegen Nierenschalen und Sturzschuhe herum. „Herr Mai“, fragt Falckner, „warum geht es in der Pflege eigentlich so rumpelig zu?“ Und schon entspinnt sich ein Gespräch über die Aufgaben der Pflegekammer.

Mehr Wertschätzung für den Dienst am Menschen

„Das Problem ist“, wird Falckner, die selbst jahrelang als Krankenschwester gearbeitet hat, später in der Pause sagen, „dass dem Beruf des Pflegers einfach zu wenig Wert beigemessen wird.“ Das findet auch Sabrina Maar. Sie steht etwas abseits der Bühne und unterhält sich mit Esma Özdemir, einer der anderen Care-Slammerinnen. „Selbst meine Eltern“, sagt Maar „wussten lange nicht, was ich als Altenpflegerin eigentlich mache.“

Um das zu ändern, suchte die gebürtige Sauerländerin eine Möglichkeit, sich auch außerhalb ihrer Ausbildung für den Beruf zu engagieren. Durch Zufall stieß sie im Internet auf den Care Slam, war von der Idee begeistert, meldete sich an und kaufte ein Ticket nach Berlin. „Das Thema Pflege“, findet Maar, „muss einfach stärker in die Gesellschaft geholt werden.“ Und zwar als das, was es ist: „Kein Politikum, sondern ein Dienst am Menschen.“

Nach der Pause kommt der Journalist Daniel Drepper vom gemeinnützigen Recherchezentrum correctiv.org auf die Bühne. Er hat lange über Alten- und Pflegeheime in Deutschland recherchiert und liest nun einige Passagen aus seinem Buch „Jeder pflegt allein. Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“ vor. Zum Abschluss gibt es noch eine ganz besondere Showeinlage: Die Dragqueen Rosetta Ferrari alias Rüdiger Cranz tritt in einem roten Paillettenkleid auf die Bühne, rückt sich die blondgelockte Haarpracht zurecht und besingt die Pflege in einem Chanson. Der Beifall für Cranz, der hauptberuflich für einen Schwerpunktträger der HIV- und Suchtpflege arbeitet, ist groß.

Fortbildung mal anders

Gerade diese interdisziplinäre Mischung hält Monika Kunz vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe Nordost (DBfK) für vielversprechend. „In den Beiträgen“, betont sie, „sollte immer die Professionalität der Pflegeberufe deutlich werden.“ Dass Falckners Veranstaltung dem gerecht wird, zeigt sich auch darin, dass die „Registrierung beruflich Pflegender“ (RbP) die Veranstaltung als Bildungsveranstaltung anerkannt hat.

Nachdem die Show vorbei ist, ist Falckner sichtlich zufrieden und verteilt an alle Menschen im Publikum, die beruflich pflegen, Fortbildungspunkte.

Doch kann die Veranstaltung wirklich helfen, die Öffentlichkeit stärker für die Situation der Pflegekräfte zu sensibilisieren? Maar ist davon überzeugt. Als sie ihrem Vater letztens das Youtube-Video ihres Auftritts zeigte, war er ganz überrascht von dem, was sie da erzählte, und hakte sichtlich begeistert nach.