Wenn der Körper außer Kontrolle gerät – mit Tics leben

In dem Film "Vincent will Meer" spielt Florian David Fitz den am Tourette-Syndrom erkrankten Vincent. Hier auf der Flucht aus der Klinik mit Marie (Karoline Herfuth) und Aleynder (Johannes Allmayer). © picture alliance/dpa Fotografia

In dem Film “Vincent will Meer” spielt Florian David Fitz den am Tourette-Syndrom erkrankten Vincent. © picture alliance/dpa Fotografia

Schulterzucken, Grimassen ziehen, Räuspern – manch einer lebt mit einem Tic. Behandlungswürdig sind diese nur in schweren Fällen. Trotzdem verstecken viele Betroffene ihre Krankheit so gut es geht – aus Angst vor Ablehnung.

Es begann mit einem Schütteln der linken Hand. Schreiben war für sie als Linkshänderin bald völlig unmöglich. Fabiene Wengert war 17 Jahre alt, als sie plötzlich die Kontrolle über ihren Körper verlor. Als weitere Tics hinzukamen, stand fest – sie hat das Tourette-Syndrom.

„Tics sind kurze, unwillkürliche Bewegungen oder Lautäußerungen, die keinem Zweck dienen und den Betroffenen sinnlos erscheinen”, erklärt Prof. Kirsten Müller-Vahl, Leiterin der Spezialsprechstunde für Tourette an der Medizinischen Hochschule Hannover. Die sogenannten motorischen Tics betreffen meist das Gesicht und den Kopf, seltener auch Arme, Beine und Rumpf. Augenblinzeln, Schulterzucken bis hin zu Springen gehören dazu. Laut- oder Wortäußerungen gelten als vokale Tics. Manche Betroffenen räuspern sich lediglich, andere rufen Schimpfworte, in Fachkreisen Koprolalie genannt. Treten mehrere motorische und mindestens ein vokaler Tic auf, sprechen Experten vom Gilles de la Tourette-Syndrom.

In den meisten Fällen sind Tics bei Kindern vorübergehend

„Gewöhnlich zeigen sich Tics erstmals im Alter zwischen sechs und acht Jahren. Schätzungsweise 5 bis 15 Prozent aller Kinder im Grundschulalter haben einen Tic, Jungen viermal häufiger als Mädchen”, so Müller-Vahl. In den allermeisten Fällen verschwindet dieser vorübergehende Tic aber nach einigen Monaten wieder – ganz von allein. Bleibt der Tic auch im Erwachsenenalter, können Betroffene lernen, diesen kurzfristig zu unterdrücken, etwa in der Öffentlichkeit. Ein großer Kraftakt, der sehr belastend ist.

Bei Fabiene Wengert wurden die Tics in kürzester Zeit stärker. Als Mittelfinger-Zeigen und Fluchen mit hinzukamen, weigerte sich ihr Lehrer, sie weiterhin zu unterrichten. Die Ausbildung zur Sozialassistentin musste die junge Frau abbrechen. „Das führte bei mir zu einem richtigen Tief, ich kam mir plötzlich so sinnlos vor”, sagt die heute 20-Jährige. Auch eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung wollte sie nicht aufnehmen. Sie mache den anderen Mitarbeitern Angst. Sie fühlte sich abgestellt und allein gelassen. Erst eine Selbsthilfegruppe gab ihr wieder neuen Mut.

Menschen mit Tics fühlen sich oft isoliert

Karin Malisch, Vorstandsmitglied beim InteressenVerband Tic und Tourette Syndrom (IVTS) und selbst Mutter eines Sohns mit Tourette, hört das immer wieder. Der Slogan des Vereins lautet daher: Nie mehr alleine mit Tics. „Wir bieten Betroffenen und Angehörigen Beratungen oder Workshops an, die das Selbstbewusstsein stärken”. Der Verein hat zudem DVDs erstellt, die zur Aufklärung eingesetzt werden können, beispielsweise an Schulen. „Es ist wichtig zu erklären, dass Betroffene nicht krankheitsbedingt weniger intelligent sind”, betont Malisch. Nach wie vor sind Betroffene im Alltag mit Ablehnung und Unverständnis konfrontiert. Dabei kann schon ein aufgeklärtes Umfeld für Entspannung bei den Betroffenen sorgen.

Tics und Tourette-Syndrom sind nicht heilbar. Bestimmte Regelkreise im Gehirn sind dauerhaft gestört, und ein Ungleichgewicht der Botenstoffe verhindert, dass Bewegungsimpulse gehemmt werden können. Müller-Vahl, die seit 19 Jahren mit Tourette-Patienten arbeitet, sagt: „Klar ist, dass es eine genetische Ursache für Tic-Störungen und Tourette gibt, welche Gene daran beteiligt sind ist allerdings noch nicht geklärt.” Auffällig ist: Menschen mit Tic-Störungen leiden auch häufiger unter Zwängen, Depressionen oder ADHS. Auch hier spielen die Botenstoffe im Gehirn eine Rolle. „Grundsätzlich müssen Tics nicht behandelt werden, nur weil sie da sind”, sagt die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Müller-Vahl. Die Stärke der Beeinträchtigung sowie der Leidensdruck spiele eine Rolle.

Verhaltenstherapie kann Störungen vermindern

Verschiedene Neuroleptika, die die Botenstoffe im Gehirn beeinflussen, blieben im Fall von Fabiene Wengert wirkungslos. Eine Verhaltenstherapie – das sogenannte „Habit Reversal Training”, bei dem Patienten lernen, dem Tic eine gezielte Bewegung entgegenzusetzen und ihn damit abzuschwächen – vermindert die Tics in der Regel um bis zu 40 Prozent. „Ich konnte damit zumindest verhindern mir weiter gegen den Kopf zu schlagen”, eine Voraussetzung für die 2014 folgende Operation, bei der Fabiene Wengert Elektroden in bestimmte Bereiche des Gehirns implantiert wurden. Mit Hilfe einer kleinen Batterie senden diese ständig elektrische Impulse an ihr Gehirn, welche die Tics hemmen sollen. Die sogenannte tiefe Hirnstimulation kommt nur in besonders schweren Fällen zum Einsatz.

Die entscheidende Verbesserung kam für Fabiene allerdings erst mit einer Cannabis-basierten Therapie. „Die Wirksamkeit der Therapie mit Cannabismedikamenten ist bisher noch nicht erwiesen, es scheint aber so zu sein, dass diese nicht nur Tic-Störungen positiv beeinflussen, sondern auch Depressionen oder Zwänge eines Tourette-Patienten abmildern können”, erklärt Müller-Vahl, die eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Studie zu Cannabis-basierten Therapien leitet.

Fabiene Wengert ist heute Schulbegleiterin für einen zehn Jahre alten Autisten. Zudem engagiert sie sich für andere Menschen mit Tic-Störungen und Tourette-Syndrom. „Wenn ich die Wahl hätte, wollte ich nicht mehr ohne Tourette leben. Ich habe durch die Krankheit viel gelernt. Sie ist jetzt ein Teil von mir.”

Von Mira Fricke (dpa)