Entlang ausgewählter Lebensgeschichten macht Sytze van der Zee mit seinem Buch „Schmerz – Eine Biografie“ begreiflich, was Schmerz ist, wie unterschiedlich er wahrgenommen wird und wie man lernen kann, mit ihm umzugehen.
Die Krankenschwester war perplex. Ein akuter Magendurchbruch plus Not-OP? Das kann doch nur eines bedeuten: höllische Qualen. Doch der Patient, der da vor ihr lag, wirkte alles andere als gequält. „Schmerzen hatte ich schon“, erwiderte er, „als höllisch habe ich sie aber nicht empfunden.“
Besagter Mann war der Niederländer Sytze van der Zee. An jenem Tag wurde ihm erstmals bewusst, dass seine Schmerzgrenze deutlich jenseits der von „normalen“ Menschen liegt. Für den Journalist und Autor war das eine Überraschung, vor allem aber der Ausgangspunkt einer produktiven Forschungsreise ins „Land der Schmerzen“.
Von wegen schmerzfreies Baby
Zur Einführung ins Thema gibt van der Zee in seinem Buch einen chronologischen Abriss der Schmerzgeschichte. Mit einfachen Worten erklärt er, wie unterschiedlich Schmerzerfahrungen in ihrer Zeit bewertet wurden, wie sich die Behandlungsmethoden von der Antike bis heute verändert haben und wie Schmerzen überhaupt entstehen.
Darüber hinaus skizziert er spezifische Krankheitsbilder, etwa den Phantomschmerz oder die Schmetterlingskrankheit, aber auch die absolut nicht krankhafte, weil „lustvolle“ Seite des Schmerzes – jedenfalls, wenn man Masochist ist.
Auch wenig Erbauliches hat van der Zee zu berichten: Etwa, dass manch Neugeborenes noch bis in die 1980er Jahre ohne Narkose operiert wurde. Damals glaubten Mediziner nämlich, Säuglinge hätten ein geringes bis gar kein Schmerzempfinden. Wie Forscher schließlich belegen konnten, fühlen Babys Schmerzen sogar stärker als Erwachsene.
Mit Migräne in die Rente
Den theoretischen Teilen stellt der Autor – und das ist eine Stärke des Buches – gut gewählte Schmerzbiografien von Betroffenen gegenüber. Diese mitunter zwar etwas langatmigen, aber doch gut geschriebenen und meist berührenden Geschichten ermöglichen auch weniger Leiderprobten einen Einblick in das „Land der Schmerzen“.
Da ist etwa die Geschichte von Jean-Paul K. Seine Cluster-Kopfschmerzen, eine spezielle und äußerst schmerzhafte Form von Migräne, machten den 39-jährigen zum Frührentner. Nun will er sich sogenannte Tiefenelektroden ins Gehirn implantieren lassen – ein äußerst riskanter, kaum erprobter chirurgischer Eingriff. Es ist sein letztmöglicher Versuch, den Schmerzen zu entkommen.
Oder Aurelia B. Sie ist eine junge Frau, die sich zwanghaft Schmerz zufügen, sich selbst verletzen muss. Selbst die Ärzte in der Psychiatrie sind überfordert und begreifen nicht, woher ihr selbstzerstörerisches Verhalten rührt. Heute geht es der jungen Frau besser. Sie schneidet sich zwar immer noch, hat aber den Mut, ihre Narben nicht mehr zu verstecken.
„Die Schmerzen gehören zu mir“
Die meisten Betroffenen, die van der Zee in seinem Buch zu Wort kommen lässt, leiden unter chronischen, oft nicht behandelbaren Schmerzen. Doch statt das Leid der Porträtierten zu inszenieren, zeigt der Autor ihre Stärke. „Auch wenn ich die Kopfschmerzen gern für immer los wäre“, sagt etwa die 13-jährige Emma, „sie gehören zu mir.“
Schmerz, das macht van der Zees Buch klar, hat kein objektives Maß. Die Schmerzwahrnehmung eines Menschen ist immer eine höchst persönliche. Sie ist ein Mix aus der eigenen Empfindsamkeit, der aktuellen gesundheitlichen wie emotionalen Verfassung und nicht zuletzt der Bedeutung, die das eigene soziale Umfeld dem Schmerz zuschreibt.
Das klingt nicht nur komplex, das ist komplex. Tatsächlich würden manche Mediziner die Betroffenen immer noch als „Simulanten“ abstempeln. Darunter ironischerweise auch Anästhesisten, deren Aufgabe es gerade ist, Menschen von ihren Schmerzen zu befreien.
Ein Schmerz-Curriculum für Ärzte
Auch deshalb fordert Sytze van der Zee eine sehr viel individueller ausgerichtete Behandlung. Aktuell fehle es nicht nur an spezialisierten Behandlungszentren, es müsse grundsätzlich mehr und interdisziplinärer in Sachen Schmerz, dessen Ursachen sowie Therapieformen geforscht werden. Zudem, so der Autor, gehöre die Schmerzbehandlung fest ins Curriculum von Ärzten und Pflegern.
„Schmerz – Eine Biografie“ ist eine gelungene Mischung aus Nachschlagewerk, Ratgeber und Reportage. Van der Zee hat viel Wissen zusammengetragen – sehr viel. Das kann mitunter zwar etwas ermüdend wirken. Was sich aber im wahren Sinne des Wortes leicht verschmerzen lässt.
“Schmerz – Eine Biografie” ist im Albrecht Knaus Verlag erschienen. Seit dem 11. Mai 2015 ist es als Taschenbuch erhältlich.