Perspektivwechsel: Einfach, Authentisch, Autistisch

Tatsächlich gibt es ziemlich viele Bücher über Autismus. Neu ist, dass immer mehr von ihnen von Autistinnen und Autisten selbst geschrieben werden. Philip Kretschmer von leidmedien.de stellt drei dieser Bücher vor.

Viele Erfahrungen, die Marlies Hübner, Denise Linke und Aleksander Knauerhase gemacht haben, ähneln sich. Viele Aussagen in ihren Texten auch. Die Wege über die sie zu diesen Aussagen gekommen sind, sind jedoch sehr unterschiedlich. Ungeplant bestätigen die Autoren damit eine Kernaussage, die in allen drei Büchern vorkommt: Es gibt nicht den Autisten oder die Autistin. Das autistische Spektrum ist breit, die Ausprägung der autismustypischen Merkmale immer unterschiedlich. Deshalb ist auch jeder autistische Mensch ganz individuell.

Denise Linke – „Nicht normal, aber das richtig gut“

Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Denise Linke ist nicht nur autistisch, ihr Arzt gab ihr auch die Diagnose ADHS. Für die junge Frau ist das jedoch kein Grund, sich zu verstecken. So beschreibt auch Linke in ihrem Buch – das eher an einen Roman als an eine Autobiografie erinnert – zahlreiche Probleme, vor denen sie stand. Etwa in ihrer Kindheit und Jugend als sie noch nicht als Autistin diagnostiziert war: „Small-Talk zu beherrschen, zählt zu den wichtigsten Eigenschaften, um von Neurotypischen als Rudelmitglied akzeptiert zu werden.“

Der Text ist dabei so frisch, lebenslustig und kurzweilig geschrieben, dass der Leser alle Berührungsängste mit dem Thema Autismus schnell verliert. Das liegt vor allem daran, dass Linke in ihren jungen Jahren schon unglaublich viel Spannendes erlebt hat. Zum Beispiel in einer verdreckten Hippie-WG in Los Angeles mit unzähligen Mitbewohnern zu wohnen (in der übrigens ihr Autismus zum ersten Mal „diagnostiziert“ wurde). Oder, alleine nach Brasilien zu einem Brieffreund zu reisen. Unübersichtliche Situationen würden viele Menschen mit Autismus wohl eher meiden – Denise Linke nicht. Sie sieht es als ein Zusammenspiel ihrer Persönlichkeit und ihrem ADHS: „Bevor mein Autismus überhaupt mitbekam, was geschah, saß ich schon im Flieger.“

Denise Linke räumt in 26, mit popkulturellen Anspielungen gespickten Kapiteln, scheinbar nebenbei mit den gängigen Vorurteilen gegenüber autistischen Menschen auf. Sie kritisiert den Umgang mit Autismus im Bildungssystem oder in den Medien, spricht über ihre Erfahrungen mit medikamentöser Behandlung und erläutert die Entstehungsgeschichte von „N#mmer“, einem Magazin „für Autisten, AD(H)Sler und Astronauten“, welches sie seit 2014 herausgibt. Dabei bleibt das Buch spannend wie ein Roman und man kann es nur schwer aus der Hand legen.

Fazit: Wer „Nicht normal, aber das richtig gut“ liest, lernt viel über Autismus, ohne es sofort zu merken. Das Buch ist sehr sympathisch geschrieben und zeigt, dass Autismus nicht automatisch Leid bedeuten muss – denn allen Menschen fehlt etwas, die Frage ist nur, wie die Gesellschaft damit umgeht.

Pressestimmen:

  • „Denise Linke hält ein Plädoyer für Inklusion und das Anders-Sein.“ (VdK-Zeitung)
  • „Mit Witz und Charme erzählt die Autorin von ihrem außergewöhnlichen Leben – und zeigt auf, was unsere Gesellschaft von denen lernen kann, die anders sind.“ (Berner Zeitung
  • „Charmant und witzig erzählt sie von ihrem ungewöhnlichen Leben. Sie möchte mit dem Buch zeigen, was die Gesellschaft von Menschen, die anders sind, lernen kann.“ (Petra Steinborn, socialnet.de)

Aleksander Knauerhase – „Autismus mal anders“

Foto: Sascha Erni

Aleksander Knauerhase hat sein Buch „Autismus mal anders“ im Eigenverlag herausgebracht. Entstanden ist ein persönliches Sachbuch, aufbauend auf den Einträgen seines Blogs „Quergedachtes“.

Knauerhase möchte Autismus aus der Innenperspektive beschreiben und aufzeigen, was es bedeutet, als Autist in der heutigen Gesellschaft zu leben. Dies gelingt ihm auf den rund 200 Seiten sehr gut – und zwar nicht nur klar und verständlich, sondern auch authentisch. Eindrücklich erklärt er wie er die Welt um sich herum wahrnimmt. Etwa beim Arztbesuch im Wartezimmer: „Da gibt es die Smartphonefummler, die nichts anderes machen,  als (…) die Umgebung mit Spielesounds oder Wischgeräuschen zu unterhalten“, schreibt er. Und: „Man glaubt gar nicht welche Informationen man in einem Wartezimmer so mitbekommt, ohne das eigentlich zu wollen. Wirklich schlimm sind aber die Zeitschriften-Durchwühler.“

Mit der „Autism Awareness“-Bewegung geht Knauerhase indes hart ins Gericht. Denn ihm reicht es nicht, nur darauf hinzuweisen, dass Autismus existiert und auch die Selbstbeschreibung autistischer Wahrnehmung ist ihm nicht genug. Knauerhase will den gesellschaftlichen Umgang mit autistischen Menschen verändern. Daher beschäftigt er sich auch mit Themen wie Inklusion, dem Schulsystem oder der Berichterstattung über autistische Menschen.

„Autismus mal anders“ ist außerdem gespickt mit „Gedanken“-Texten, die nicht direkt Autismus beschreiben, aber Denkanstöße geben sollen – beispielsweise zu der Frage „Was ist eigentlich normal?“, zum Umgang der Weltgesundheitsorganisation mit Autismus oder zu Knauerhases Rezeption von Kunst.

Fazit: Durch das Buch „Autismus mal anders“ lernt der Leser nicht nur sehr viel darüber wie ein Mensch mit Autismus seine Welt wahrnimmt, er bekommt auch wertvolle Denkanstöße zum gesellschaftlichen Umgang mit Autismus. Wer sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen möchte, aber keine Lust auf trockene Texte aus der Wissenschaft hat, dem sei Knauerhase empfohlen.

Pressestimmen:

  • „Absolut lesenswert für jeden, der von einem eloquenten Autor mehr über das Leben mit Autismus erfahren möchte.“ Silke Bauernfeind (ellasblog.de)
  • „Ein gut verständliches Sachbuch.“ Christine Dressler (Wiesbadener Kurier)

Marlies Hübner – „Verstörungstheorien“

Foto: Schwarzkopf&Schwarzkop Verlag | Mascha Seitz

Das schwerste, aber damit vielleicht auch wichtigste der drei Bücher hat Marlies Hübner geschrieben. Die Bloggerin und Autorin schreibt in ihren „Verstörungstheorien“ über die autistische Elisabeth. Wie viel von Hübners eigener Biografie in den Memoiren „aus der Badewanne“ steckt, wird auch im Nachwort nicht ganz klar. Vermutlich stammt jedoch ein großer Teil des Erzählten aus ihren eigenen Erfahrungen.

Von Beginn an ist die Stimmung des Buchs bedrückend, der Leser spürt förmlich das Unwohlsein der (noch) nicht diagnostizierten Protagonistin Elisabeth. Schon im zweiten Kapitel kommt es zu einer ungesühnten Vergewaltigung, und die wiederkehrende sexuelle Ausbeutung der autistischen Hauptfigur erzeugt ein sehr erdrückendes Gefühl.

Marlies Hübner beschönigt in ihrer Erzählung nichts. Eindrucksvoll zeigt sie, welche Schwierigkeiten sich für autistische Menschen in unserer Gesellschaft ergeben können. Besonders, wenn sie noch nicht diagnostiziert sind und daher die Schuld für die Probleme im Alltag bei sich selbst suchen.

Doch auch die Diagnose ist für die Hauptfigur Elisabeth keine Erlösung: „Es mag Menschen geben, denen die Gewissheit über ihren Zustand sofortigen Halt gibt; leider gehörte ich nicht zu ihnen“, schreibt Hübner: „In mir löste die Diagnose Angst aus und den fatalistischen Gedanken, mit Mitte zwanzig unabänderlich am Leben gescheitert zu sein.“ Bis zum Ende vermeidet die Autorin es, in romantische Klischees zu verfallen – ein klassisches Happy End wird man bei ihr vergebens suchen. Ein wenig Hoffnung, dass Elisabeths Lebenssituation sich irgendwann verbessert, schimmert dann glücklicherweise doch noch durch.

Fazit: Marlies Hübner versucht in „Verstörungstheorien“ ein möglichst komplexes und facettenreiches Bild einer Autistin zu vermitteln, auch wenn ihr klar ist, dass diese Beschreibung kein allgemeingültiges Bild sein kann. Ebenso weiß sie, dass für das Verständnis für Menschen mit Autismus eine positivere Darstellung vielleicht förderlicher wäre, doch sie sieht sich dazu nicht in der Lage: „Ein autistisches Leben ist wie jedes andere Leben auch geprägt von Höhen und Tiefen. Nur dass die Voraussetzungen, diese Tiefen auch zu meistern, für Autisten deutlich schlechter sind.“ Hübner möchte ein autistisches Leben nicht besser oder schlechter bewerten, sondern einfach nur aufzeigen, wohin fehlendes Verständnis führen kann. Und das tun die „Verstörungstheorien“ schonungslos.

Pressestimmen:

  • „Große Leistung, sowie viele Parallelen. Bravo!“ Aada K. Lopez (blogspot.de)
  • „Marlies Hübner aus Stuttgart gibt in ihrem Erstlingswerk spannende Einblicke in ihr Leben mit Autismus.“ Wenke Böhm (Stuttgarter Zeitung)

 

Der Autor

Philip Kretschmer ist freier Journalist und arbeitete schon während seines Studiums der Politikwissenschaften bei der Deutschen Welle. Seit ein enger Freund schwer erkrankt ist, beschäftigt er sich vor allem mit Themen wie Barrierefreiheit und Inklusion.

Der Artikel „Perspektivwechsel: Einfach, Authentisch, Autistisch“ ist zuvor bei Leidmedien.de erschienen. Leidmedien.de ist ein Projekt der Sozialhelden, das sich dafür einsetzt, Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen abzubauen. Der Ansatz der Medienschaffenden: gezielte Medienkritik und Begegnungen zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen. Für Journalisten hat Leidmedien.de auch eine Reihe von Tipps zusammengestellt, um ihnen zu helfen, über Menschen mit Behinderung zu berichten – ausgewogen und auf Augenhöhe.