Demenz: Mit Farbe und Ton gegen den Sprachverlust

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Kann es Menschen mit Demenz helfen, Kunst zu betrachten und kreativ zu arbeiten? In einem Frankfurter Museum wollen Wissenschaftler das herausfinden. Kunstvermittler staunen: „Die Menschen sind zum Teil freier als Gesunde.“

Herr L. zeichnet ein kleines Männchen in die Ecke des Blattes – seine Frau umspielt es mit abstrakten Farben. Eine Tochter nimmt die Hand ihrer Mutter und bringt diese in Schwung – als sie loslässt, malt Erna M. allein weiter orange Kreise aufs Papier. Frau V. und ihre Betreuerin bearbeiten, streng getrennt, je eine Hälfte des Bildes. Dieter L. (76), Erna M. (93) und Ingrid V. (79) sind dement. Im Frankfurter Städel-Museum betrachten sie Kunstwerke und arbeiten im Atelier ­– und liefern so auch Erkenntnisse für die Wissenschaft.

„Artemis“ heißt das bundesweit einmalige Projekt. Der Schwerpunkt Altersmedizin des Frankfurter Universitätsklinikums will mit Hilfe von 60 Patienten und 60 Betreuern herausfinden, was Kunstbetrachtung und Kunsttherapie bei Demenz bewirken kann. 40 Paare haben bisher teilgenommen, nun sollen weitere folgen.

Vom Gegenstand zur Abstraktion

Die ersten Erkenntnisse stimmen die Wissenschaftler hoffnungsvoll. „Was sich verbessern kann, sind Kommunikation und Beziehung zwischen Patienten und Bezugsperson ebenso wie das subjektive Wohlbefinden“, sagt der Projektverantwortliche, Arthur Schall. Positive Auswirkungen gebe es auch bei den belastenden Begleiterscheinungen der Demenz: „Apathische Patienten werden mobilisiert und unruhige oder aggressive ruhiger.“ Zu erwarten sei nicht, dass sich der Schweregrad der Demenz verringert.

Sechs Wochen lang kommt jeweils eine kleine Gruppe einmal wöchentlich ins Museum – für je eine Stunde Führung und eine Stunde Workshop. Sie beschäftigen sich immer mit einem anderen Thema: Frankfurt, Familie und Kinder, Stillleben, Gesichter, die Farbe Blau und abstrakte Kunst.

Dieter L., Erna M., Ingrid V. und Hanne C. sind am Ende ihres Zyklus’ angekommen, bei der Abstraktion. Auf Klappstühlen sitzen sie neben ihren Betreuern vor Bildern in der Sammlung für Moderne Kunst und diskutieren. „Was sehen Sie?“, fragt Kunstpädagogin Dagmar Marth, eine von sieben speziell geschulten Kunstvermittlern, die die „Artemis“-Gruppen begleiten.

„Haare“ sieht Hanne C. auf einem Foto des Künstlers Wolfgang Tillmans. „Aber die sind grün!“, widerspricht Dieter L. „Ach, die färben sich die Haare heute doch in den verrücktesten Farben“, argumentiert Roswitha R., ihre 93-jährige Mutter sitzt im Rollstuhl stumm dabei und lächelt. Mühsam setzt die Gruppe sich in Bewegung: Rollstühle werden losgeschoben, Stöcke gereicht, Begleiter tragen Klapphocker.

Aus Sprache wird Mimik

Leuchtende Farbkreise in Gelb und Orange stimmen Hanne C. nicht so fröhlich wie Ingrid V. „Das ist mir zu verwirrend. Da ich im Moment selbst sehr aufgewühlt bin, passt das nicht so“, sagt die aufgeweckte grauhaarige Dame, die erst kürzlich mit der Diagnose Demenz konfrontiert wurde. „Die Tatsache, dass ich dabei bin, meinen Verstand zu verlieren, war für mich ganz fürchterlich“, sagt die 73-Jährige später. „Ich habe mein ganzes Leben mit meinem Kopf gearbeitet.“ Die Diagnose: „Eine absolute Beleidigung!“

Bei der pensionierten Lehrerin ist die Demenz erst leicht ausgeprägt, sie gehört zu den fittesten Teilnehmern von „Artemis“. Erna M. ist mit 93 eine der Ältesten, sie kann sich kaum noch artikulieren. „Meine Mutter hat ja nicht mehr so viel Sprache zur Verfügung“, sagt die Tochter, „sie kommuniziert über Mimik und Gestik.“

Für Kunstpädagogen wie Dagmar Marth ist das die größte Herausforderung: Der Schweregrad der Demenz ist in jeder Gruppe unterschiedlich. Dazu kommt, dass es immer von der Tagesform abhängt, was geht und was nicht geht. „Zum Teil ist es aber auch sehr spaßig“, sagt Marth. In manchem seien diese Gruppen allen anderen überlegen: „Die Menschen sind zum Teil sehr frei – freier als Gesunde.“

Die Teilnehmer nehmen kein Blatt vor den Mund. „Eine Provokation!“, schimpft Hanne C. bei einem grell-schrillen Bild. „Also ich frage mich: Was will der Künstler damit sagen? Was hat er sich gedacht? Ich versteh das nicht“, sagt Dieter L. Die Demenz befreit die Museumsbesucher von der Furcht, als Banausen dazustehen.

 

Kunst heilt nicht, aber sie hilft

Ganz anders im praktischen Teil. Im Atelier hätten viele Teilnehmer Angst, etwas falsch zu machen, sagt Marth. „Wir versuchen, den Druck rauszunehmen.“ Heute malen die Paare zur Musik von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ gemeinsam „Herbst“ und „Winter“ mit Pastellkreiden. Am Ende werden alle Bilder an die Wand gehängt und gemeinsam besprochen. „Das war nicht einfach. Man will es ja richtig machen“, sagt Frau V.

Frau C. gefällt ihr Bild gar nicht: „Das ist zu akkurat. Akkurat – ich war mein ganzes Leben akkurat. Aber das war falsch!“ Die anderen finden ihr Bild trotzdem schön. Das Ehepaar L. hat sich vergeblich bemüht, sein gegenständliches Männchen und ihre abstrakten Farben zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. „Wer ist denn das da unten?“, fragt die Kunstpädagogin Marth. „Das bin ich“, sagt Herr L. stolz. „Das ist die Opposition“, kommentiert seine Frau trocken.

Auch wenn sich keiner der Teilnehmer der Illusion hingibt, Kunst könne gegen Demenz helfen, so sagen doch alle: Wir haben profitiert. Die Tochter von Erna M. berichtet, dass ihre Mutter am Abend nach den „Artemis“-Tagen zwar sehr erschöpft ist, „am nächsten Tag aber ist sie ziemlich wach und klar“. Die Betreuerin von Ingrid V., die sich auch um andere Patienten kümmert, nimmt Tipps mit, wie man Menschen mit Demenz beschäftigen kann. Ehepaar L. will künftig öfter zusammen ins Museum gehen. Ihr war vor allem das Gruppenerlebnis wichtig: „Mein Mann hat gesehen, dass es auch andere Menschen betrifft“, sagt sie.

Vorbild für „Artemis“ waren Kunstführungen für Demente am New Yorker Museum of Modern Art. Die Kombination mit Kunsttherapie gibt es – bisher – nur in Frankfurt. „Wenn die Worte fehlen und das Gedächtnis nachlässt, hilft Menschen mit leichter und mittelschwerer Demenz oft die nonverbale Kommunikation“, erklärte Professor Johannes Pantel, Direktor der Altersmedizin an der Frankfurter Goethe-Universität, als er das Projekt im „Ärzteblatt“ vorstellte.

Den Erfolg messen

„Wir erwarten, dass kommunikative Fähigkeiten angeregt und verstärkt werden, dass Wohlbefinden und Lebensqualität aufrechterhalten und die Beziehungen innerhalb der Familie gefördert und stabilisiert werden.“ Dass Musiktherapie Dementen helfen kann, sei in vielen Studien nachgewiesen, sagt Pantel. Welchen Beitrag die Kunst leisten könnte, sei dagegen kaum erforscht.

Der Diplompsychologe und Kunsthistoriker Arthur Schall will diese Lücke schließen. Wie messen er und seine Mitarbeiter den Erfolg? „Ein Mix aus quantitativen und qualitativen Analysen“ soll Ergebnisse liefern, die wissenschaftlichen Anforderungen genügen.

In der Studie bilden für spätere Kurse gebuchte Teilnehmer die Kontrollgruppe für die früheren Gruppen. Die Demenzkranken werden zu drei Zeitpunkten getestet, die Angehörigen dreimal befragt: vor Beginn, am Ende und einige Monate danach. Vor und nach jedem Kurs füllen die Angehörigen einen kleineren Fragebogen zu ihrer Befindlichkeit aus; die Dementen kreuzen Smileys an, die ihre Stimmung abbilden. Während der Workshops läuft eine Videokamera, die aufzeichnet, wie sich die Kommunikation des jeweiligen Paares entwickelt.

Im Sommer werden die Daten ausgewertet, in der zweiten Jahreshälfte sollen die Ergebnisse in der Fachpresse publiziert werden. Die Bilder aus den Atelier-Stunden sollen in einer Ausstellung gezeigt werden, auch ein wissenschaftliches Symposium ist geplant. Damit andere Museen das Programm übernehmen können, wollen die Frankfurter ein Praxishandbuch erstellen. „Es haben schon einige Museen aus ganz Deutschland angefragt“, sagt Schall.

Das Städel-Museum musste sich auf die Zielgruppe Demente erst einstellen. Nach den ersten Terminen habe man „nachjustieren“ müssen, berichtet Projektleiterin Franziska Pollin in einem Blog-Beitrag. Die Aufgaben in den Workshops waren zu schwer, man speckte ab und lernte: „Haptische Erlebnisse und assoziatives Arbeiten sind wichtiger als aufwendige Materialschlachten.“

Es geht um Erinnerungen und Gefühle

Besonders beliebt sei das Arbeiten mit den Händen im Ton. „Es steht nicht im Vordergrund, kunsthistorisches Wissen zu vermitteln.“ Wichtiger: „Welche Gefühle werden hervorgerufen? Weckt das Kunstwerk bestimmte Erinnerungen?“

Das Geld für das Projekt kommt von der Familie Schambach Stiftung, die sowohl Wissenschaft als auch Altenhilfe fördert. Bis Mitte 2016 stehen 200 000 Euro zur Verfügung. Danach, so hoffen die „Artemis“-Macher, könnte die Stadt das Projekt dauerhaft finanzieren. Die Tochter von Erna M. würden gern weitermachen. „Meine Mutter ist gerade erst so richtig in Fahrt gekommen.“

Von Sandra Trauner (dpa)