Der Trend zu Vernetzung erfasst auch die Medizin: Kliniken und Gesundheitskonzerne testen neue digitale Methoden wie die Analyse von Patientendaten. Das soll Forschung und Behandlung verbessern. Doch wer schützt sensible Daten vor Missbrauch?
Tabletten, die nach Auflösung im Magen Signale zur korrekten Einnahme senden oder Kontaktlinsen, die stetig den Augendruck messen, um Grünen Star zu verhindern: In der Medizin der Zukunft ist vieles denkbar, was heute wie Zukunftsmusik klingt. Der Heilkunst – bisher wenig von der Digitalisierung umgewälzt – steht ein Wandel bevor. Er birgt Chancen für Patienten, Erleichterungen für Ärzte, Geschäfte für Konzerne, aber auch Risiken beim Datenschutz.
Weltweit werde sich der digitale Gesundheitsmarkt bis 2020 mehr als verdoppeln auf gut 200 Milliarden Dollar (170 Milliarden Euro), schätzt die Beratungsfirma Roland Berger. Investoren steckten Unsummen in Wachstumsfirmen, die Gesundheits-Apps fürs Smartphone entwickeln. Sie könnten Blutdruck und Körpertemperatur erfassen, erste Diagnosen erstellen und Besitzern den Arztbesuch empfehlen. Und elektronische Patientenakten könnten Behandlungen verbessern und die Kosten in den Gesundheitssystem mittelfristig um 80 Milliarden Dollar senken, sagt Thilo Kaltenbach, Partner bei Roland Berger.
Die Kompetenz von Betroffenen nutzen
Die Auswertung von Patientendaten ist eines der wichtigsten Zukunftsprojekte im deutschen Gesundheitssystem. Üppig gefördert mit 150 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium läuft eine Initiative, mit der Universitätskliniken eines Tages Patientendaten austauschen könnten. Bisher wurden schon Abrechnungsdaten von Krankenkassen analysiert, nicht aber medizinische Daten.
Schon heute produzierten Klinik und Forschung sehr viele Daten, heißt es beim Ministerium. „Immer mehr Röntgenbilder, Arztbriefe oder Laborwerte werden elektronisch erfasst.“ Die Daten würden aber zu wenig verknüpft. Patienten absolvierten daher oft eine Odyssee bei Ärzten, bis sie die richtige Behandlung erhielten. Oft mangele es an vergleichbaren medizinischen Fällen oder Langzeiterfahrung.
Nun soll eine Brücke zwischen Patientenversorgung und Forschung entstehen. Das Projekt helfe Forschern, ein besseres Verständnis von Krankheiten zu erlangen, das für neue Präventions-, Diagnose- und Therapieverfahren „dringend benötigt wird“. Am Ende sollen Kliniken und Ärzte über Schnittstellen auf Patientendaten zugreifen und sich auf alle im Gesundheitssystem wichtigen Daten stützen.
Großbritannien habe mit der Einbindung von Betroffenenkompetenz gute Erfahrungen gemacht, sagt Susanne Mauersberg, Gesundheitsexpertin beim Verbraucherzentrale Bundesverband. „Indes wird in der Forschung auch mit Big Data dringend mehr Patientenerfahrung benötigt.“
Auch Ärztevertreter begrüßen die Nutzung anonymisierter Behandlungsdaten. Für die Forschung wäre es ein „echter Fortschritt“, wenn Patienten festlegen könnten, ob ihre Behandlungsdaten in „gesicherten und staatlich kontrollierten“ Datenbanken hinterlegt werden dürften, sagt Peter Bobbert, Bundesvorstand beim Marburger Bund. Dafür müssten aber hohe wissenschaftliche und ethische Standards gelten und Patienten Herr des Verfahrens bleiben. „Der Datenschutz darf nicht außer Kraft gesetzt werden.“
Eine gemeinsame Position aller Bundesländer für die Zustimmung der Patienten fehlt noch. Mauersberg wirbt für eine praxistaugliche Lösung. Wenn Kranke für jeden Zweck einzeln zustimmen müssen, sei das wenig praktikabel. „Wir brauchen zudem einen zeitgemäßen und dynamischen Datenschutz.“ Negativbeispiel sind aus ihrer Sicht die USA: Dort werden Patientenprofile gehandelt.
Digitale Zukunftsprojekte kosten Geld
Doch nicht nur der Bund, auch die Privatwirtschaft testet die ökonomischen und medizinischen Chancen von Patientendaten. Deutschlands größter Klinikbetreiber Fresenius Helios unternimmt erste Versuche und der Softwarekonzern SAP arbeitet mit der Berliner Charité Klinik an einem Projekt, das die Behandlung chronisch Kranker per Nutzung von Patientendaten verbessern soll. „In Krankenhäusern liegen tonnenweise Daten, die sie alleine gar nicht nutzen können“, sagte SAP-Experte Kai Sachs auf einer Konferenz in Frankfurt.
Ließen sich Daten verknüpfen und Ärzten zur Verfügung stellen, könnte das die Therapien chronisch Kranker verbessern, so die Vision. Daten könnten vor Herzschäden warnen, wenn der Ruhepuls von Patienten regelmäßig zu hoch sei oder Datenschwankungen auf schädliche Wassereinlagerungen hindeuteten. Es gehe um ein Prototyp-Projekt, betont SAP. Alle Datenschutz-Gesetze würden eingehalten.
Wirtschaftliche Vorteile der Digitalisierung, die dem Gesundheitswesen insgesamt zugutekämen, seien begrüßenswert, meint der Marburger Bund. Die große Mehrheit der angestellten Ärzte glaube, dass die Digitalisierung die Arbeit im Krankenhaus verbessert könne. Ökonomische Aspekte dürften jedoch nicht im Vordergrund stehen. „Wir müssen verhindern, dass finanzstarke Unternehmen aus personalisierten medizinischen Daten ein Geschäftsmodell zur Steigerung des eigenen Gewinns entwickeln“, sagt Bobbert.
Digitale Zukunftsprojekte kosten allerdings viel Geld – und das ist knapp in Krankenhäusern. Ein Viertel der rund 2000 Kliniken hierzulande schreibt laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) Verluste. Für die digitale Aufrüstung seien zehn Milliarden Euro nötig, schätzt der Marburger Bund. Er fordert ein „staatliches Sonderprogramm“.
Bisher aber fließt das Geld eher zäh. Von den jährlich für Investitionen benötigten sechs Milliarden Euro zahlten die Bundesländer nur etwa die Hälfte, kritisiert die DKG. Geld für Modernisierung fehle an allen Ecken und Enden. Bis sich digitale Vorzeigeprojekte in Kliniken durchsetzen, muss noch viel passieren.
Von Alexander Sturm (dpa)