Junge Demenzpatienten sind auf sich gestellt 

Einen Scheich als Mann: Auch Halluzinationen können ein Anzeichen für Alzheimer sein. Für Betroffene unter 65 sind die Hilfsangebote allerdings noch rar, sagen Experten.

In ihrer Filmrolle joggt Juliane Moore durch die Stadt, nach außen hin körperlich topfit. Unvermittelt bleibt sie stehen, dreht sich mehrmals im Kreis und blickt unruhig, ja orientierungslos um sich. Erst nach einer Weile macht sie sich wieder auf den Heimweg. Es sind die ersten Anzeichen von Demenz, die der Film “Still Alice” auf diese Weise zeigt. In relativ jungem Alter ist der Gehirn-Verfall zwar selten, anders als bei älteren Menschen. Kein Trost für Betroffene: Bei der Münchnerin Gudrun T. liegt die Diagnose vier Jahre zurück. Danach ließ man sie gehen, erzählt die inzwischen 66-Jährige. Eine Woche schloss sie sich nach dem Schock zu Hause ein.

In Deutschland leben nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAG) etwa 24 000 Menschen unter 65 Jahren mit einer Demenz. Nach Angaben des EU-Projekts “Rhapsodie” gibt es pro Jahr 4800 neue Fälle. Bei dem Vorhaben vergleichen Experten seit rund einem Jahr etwa, wie sich verschiedene Länder auf die Bedürfnisse junger Patienten einrichten. Das Bewusstsein für die Krankheit variiert stark, soviel steht bereits fest. Auch wegen der verbesserten Diagnostik sei man auf das Thema aufmerksam geworden, sagt die DAG-Geschäftsführerin, Sabine Jansen. Die DAG ist ein Projekt-Partner.

Hausärzte sind oft überfordert

Was auch Jüngere krank macht? Bei einem Teil der Betroffenen geben genetische Ursachen den Ausschlag, erläutert Professor Frank Jessen vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Neben der familiären Alzheimer-Erkrankung, die auf einzelne Gen-Mutationen zurückgehe, seien Jüngere auch oft von der sogenannten frontotemporalen Demenz (FTD) betroffen. Dabei sterben Nervenzellen zunächst in jenen Teilen des Gehirns ab, die Gefühle und Sozialverhalten steuern.

“Beide Formen werden von Experten, etwa in Gedächtnisambulanzen, inzwischen gut diagnostiziert”, sagte Jessen. Nicht immer jedoch beim Hausarzt, beobachtet Sabine Jansen: “Bei Patienten in dem Alter werden Gedächtnisschwächen eher mit Stress oder Burn-Out verbunden.”

Bei Gudrun T. begann die Krankheit mit Halluzinationen: Sie hatte einen Scheich als Mann und 18 Kinder. “Es war schrecklich”, sagt sie. Als Passanten sie eines Tages orientierungslos in einem Park finden, wird sie von Experten untersucht. Durch Computertomographie zeigt sich: Alzheimer. Am Telefon erzählt Gudrun T. völlig klar aus ihrem Alltag, nur ab und an fehlt ihr ein Wort. Die ehemalige Heimerzieherin lebt allein in ihrer Wohnung, bis heute. Bei ihr verläuft die Krankheit sehr, sehr langsam.

Mit Humor durch den Alltag

Das fitte “Küken” sei sie bei ihrem ersten Besuch einer Demenzgruppe der Arbeiterwohlfahrt gewesen. Dort verwies man sie wenige Monate nach der Diagnose an die lokale Alzheimer Gesellschaft. Mit dem Kontakt zu anderen jung Betroffenen arrangierte sie sich Stück für Stück mit der Krankheit. “Normalerweise schaffen es gerade Menschen mit wenig sozialen Kontakten erst viel später, sich Hilfe zu suchen”, sagt Sozialpädagogin Dagmar Aimer, die Gudrun T. in der Einrichtung betreut.

Missgeschicke nimmt Gudrun T. inzwischen mit Humor: Manchmal ziehe sie die Hose auf links an und bemerke das erst abends. Und den Obstsalat, den sie glaubt, zu Weihnachten vorbereitetet zu haben, habe sie bis heute nicht wiedergefunden. “Noch stinkt es nicht in der Wohnung”, scherzt sie im Sommer. Das Kochen hat sie dennoch sicherheitshalber aufgegeben. Einmal in der Woche bringt ein Pflegedienst die Medikamente vorbei. “Die gucken, ob ich noch da bin.” Auf einem Tisch halte sie Dinge bereit, die sie am Tag brauchen wird: Schlüssel, Notizen zu Erledigungen, Medikamente. Dabei sagen Experten, dass medizinisch bei Alzheimer wenig zu machen sei.

Umso nötiger wären spezielle Beratungsangebote, die im Alltag helfen: Denn viele der Patienten mit 45, 50 oder 60 Jahren stehen noch im Berufsleben, haben Kinder im Haus und mit der Diagnose einen sofortigen Berentungsgrund. “Gerade in strukturschwachen Regionen fehlen die Anlaufstellen”, sagt Jessen. Ebenso mangele es im ganzen Land an speziellen Heimen oder Tagespflege, sagt DAG-Expertin Jansen.

E-Learning für Angehörige

Bei ihrem Bäcker, im Buchladen und der Blumenverkäuferin hat Gudrun T. von ihrer Demenz erzählt. “Am Anfang habe ich mich schwergetan. Jetzt gehe ich sehr offen damit um”, sagt sie. Die Menschen reagierten oft positiv, aber viele verschlössen die Augen vor ihr und der Krankheit. Auch in ihrer Familie.

Unterstützung vermisste sie vor allem in der Anfangszeit. “Jetzt brauche ich die auch nicht mehr”, sagt sie, mit Ärger in der Stimme. Doch gerade für Angehörige sei die Lage schwierig: “Es sollte nicht sein, dass Ehen und Freundschaften durch die Krankheit kaputt gehen.” Für Angehörige jung Erkrankter soll sich zumindest etwas tun: Ein Ziel von “Rhapsodie” ist ein E-Learning-Programm, das Angehörige in der Krankheitsbewältigung schult.

Für Gudrun T. bleibt die Gewissheit, dass ihr Gedächtnis sie mehr und mehr im Stich lassen wird. Sie wolle zu Hause bleiben, solange es gehe. Rund 200 Euro bekomme sie monatlich von der Pflegekasse, für Betreuungsleistungen und den Besuch von Alzheimer-Gruppen. “Mehr wird es wohl erst, wenn man ins Heim kommt.” Davon, so hofft sie, ist sie noch ein Stück entfernt.

Von Gisela Gross (dpa)