Lieber Kaiserschnitt oder doch natürliche Geburt? Unter Schwangeren und Müttern ist dies eine viel diskutierte und emotionale Frage. Der Kaiserschnitt gilt oft noch als ein Tabu, dabei würde er aus Sicht einiger Ärzte manche Frauen vor späteren Schäden bewahren.
Katja Johnson* erinnert sich noch gut an die Worte der Ärzte, bevor sie die Saugglocke ansetzten: „Das ist für Sie jetzt nicht so gut.“ Ihr Sohn kam damals in letzter Minute gesund zur Welt. Doch die 39-jährige Mutter leidet auch neun Jahre später noch an den Folgen der komplizierten Geburt. Neben einem Beckenbodenschaden trug sie auch einen schweren Dammriss davon und leidet noch heute an Stuhl- und Harninkontinenz. Auch ihre Sexualität habe sich zum Negativen verändert. „Es fühlt sich alles so taub an“, sagt sie.
Vaginale Geburten gelten gemeinhin als beste Methode, ein Kind auf die Welt zu bringen, weil sie die natürliche Form der Geburt sind. Aus Sicht einiger Experten könnte aber ein Kaiserschnitt bei manchen Frauen größere und bleibende körperliche Schäden am Beckenboden verhindern. Die Betroffenen wissen oft wenig oder nichts davon, denn die Aufklärung über die Folgen natürlicher Geburten ist aus Expertensicht in Deutschland noch unzureichend, ein Wunsch-Kaiserschnitt oft ein Tabu.
Bei jeder zehnten Geburt reißt der Beckenboden
„Es geht nicht um den ‚Kaiserschnitt für alle’, sondern darum, dass die Frauen mit Risikofaktoren herausgefiltert werden sollten“, fordert etwa Kaven Baeßler. Die Leiterin des Berliner Beckenboden- und Kontinenzzentrums sieht ständig Frauen mit bleibenden, geburtsbedingten Beckenbodenschäden. „Sie sitzen in meiner Sprechstunde und bedauern, dass ihnen kein Kaiserschnitt angeboten wurde“, so Baeßler.
Der Beckenboden ist eine Muskelplatte, die die inneren Organe im Becken zurückhält. Bei einer Geburt kann der Muskel stark überdehnt werden oder auch reißen. In der Folge können sich innere Organe wie Blase, Darm, Gebärmutter und Scheide senken. „Etwa bei 10 bis 20 Prozent der Geburten reißt der Beckenboden“, sagt Kaven Baeßler. Ein solcher Schaden sei zur Zeit noch nicht zu reparieren. „Man kann nicht den blanken Muskel wieder ans Schambein tackern.“
„Was da passiert, ist von einem ähnlichen Kaliber wie eine massive Sportverletzung, von der wir lange schlichtweg nichts wussten“, sagt Hans Peter Dietz, Urogynäkologe im australischen Sydney. Denn äußerlich seien oft nur Dammrisse sichtbar, also ein Riss des Gewebes zwischen Scheide und After. „In den Lehrbüchern stand lange Jahre vieles falsch oder unzureichend“, sagt Dietz. Er forscht seit mehr als 20 Jahren zum Thema Beckenboden und war eigenen Worten zufolge der erste Arzt, der die Schäden per Ultraschall sichtbar machte.
Vor allem kleine, übergewichtige Frauen und solche mit besonders schweren und großen Babys seien Risikopatientinnen. „Diese sollte man gezielt aufklären“, fordert die Urogynäkologin Baeßler. Auch das Alter der Frauen spiele eine Rolle, ergänzt Dietz: „Unter 30 ist es noch gut möglich, dass die Vorteile einer natürlichen Geburt überwiegen. Aber je älter die Frauen werden, desto wahrscheinlicher sind Beckenboden- oder Dammrisse. Die Elastizität des Gewebes nimmt ab.“ Darüber hinaus seien Zangengeburten sehr riskant, da durch die Schnelligkeit und starke Zugkraft der Beckenboden besonders strapaziert werde. Zangen werden bei Komplikationen eingesetzt.
Leichtere Verletzungen ließen sich operativ beheben. „Auch ein Pessar, kurz nach der Geburt eingesetzt, kann helfen, die Beckenbodenstrukturen wieder an den richtigen Platz zu rücken und die Heilungschancen zu verbessern“, erläutert Baeßler. Das Verfahren habe sich seit langem bewährt, werde allerdings längst nicht von allen Frauenärzten genutzt. Auch eine frühe, gezielte Physiotherapie bei einer spezialisierten Physiotherapeutin, die auch vaginal tasten kann, sei empfehlenswert.
Katja Johnson war eine typische Risikopatientin: Mit 1,63 Meter und 59 Kilogramm vor der Schwangerschaft eine zierliche Frau mit einem 4,5 Kilogramm schwerem Baby. „Meine Hebamme hatte mich schon gewarnt, die Frauenärztin sah allerdings keine Probleme“, erinnert sich Johnson.
Schwedische Ärzte haben schon vor einigen Jahren einen Rechner entwickelt, mit dem sich das Risiko späterer Beckenbodenschäden abschätzen lässt. Kaven Baeßler nutzt den „UR-Choice-Rechner“ für ihre Beratungen. Er sei allerdings in Deutschland noch nicht weit verbreitet, so die Ärztin, die sich mehr Aufklärung durch die niedergelassenen Gynäkologen wünscht.
„Auch eine Schwangerschaft per se kann Inkontinenzprobleme verursachen“, gibt Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Berliner Charité, zu bedenken. In Abwägung aller Risikofaktoren sei eine vaginale Geburt einem Kaiserschnitt vorzuziehen. Letzterer bleibe eine Operation. „Nur finde ich es nicht fair, bei mündigen Schwangeren diesen Bereich der Aufklärung in der Geburtsplanung auszusparen“, so der Arzt. Es obliege in der Kompetenz des Beraters, offen, ehrlich, abwägend und nicht verängstigend aufzuklären – eine Gratwanderung.
Experten fordern eine Risikoaufklärung
Peter Dietz kritisiert, dass die Diskussion um die Art der Geburt oft ideologisch geführt werde. „Wenn das nicht politisch so unkorrekt wäre, würde ich allen Schwangeren in der 36./37. Woche eine Beratung empfehlen, in der sie sich über ihre individuellen Risiken informieren können“, so Dietz.
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) hält eine solche Beratung nicht für sinnvoll: „Eine Risikoaufklärung aller Frauen vor der vaginalen Geburt hinsichtlich einer möglichen Gefährdung des Beckenbodens entspricht nicht dem Stand der Wissenschaft und würde nur zur weiteren Verunsicherung von Frauen beitragen“, begründet die Gesellschaft. Sie verweist auf eine Studie zu den Langzeiteffekten von fast 30 Millionen Geburten.
Die Forscher um Oonagh Keag vom Royal Infirmary of Edinburgh hätten darin herausgefunden, dass es nach Kaiserschnitten tatsächlich zu weniger Beckenbodenschäden und Inkontinenz käme. Allerdings träten negative Folgen für die mütterliche und kindliche Gesundheit im weit höherem Maße auf – etwa spätere Fehlgeburten oder ein erhöhtes Asthmarisiko bei den Kindern. Dietz hält diese Studie für „gefährlichen Unsinn“. Beckenbodenrisse und Organvorfälle tauchten dort gar nicht auf.
Dass eine Beratung von Schwangeren sinnvoll sei, um langfristige Schäden und Folgekosten zu minimieren, werde sich erst in 30 bis 40 Jahren herumgesprochen haben, ist er überzeugt. „Bislang werden die Kaiserschnittraten auf Kosten der Frauen möglichst niedrig gehalten. Dabei wären einige Frauen damit besser beraten“, sagt der Arzt.
In Deutschland kommt fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt – 2017 waren es 30,5 Prozent. Der Anteil ist im Laufe der Jahre deutlich gestiegen, 1991 lag er noch bei rund 15 Prozent. Experten erklären den Anstieg unter anderem mit einem veränderten Risikoprofil der immer älter werdenden Schwangeren, einer Zunahme von Wunsch-Kaiserschnitten und einer vermehrten Tendenz zur Risikovermeidung. Ein Kaiserschnitt birgt allerdings auch Risiken. Bei der Operation kann es zu Infektionen und Organverletzungen kommen. Bei Folgeschwangerschaften können Komplikationen wie ein Riss der Gebärmutter oder eine Fehllage der Placenta auftreten.
Katja Johnson weiß nicht, wie groß bei ihr der Schaden am Beckenboden eigentlich ist. „Das wurde leider nie genau untersucht“, sagt die Brandenburgerin. „Hätte ich geahnt, welche Folgen die Geburt hat, hätte ich mich für einen Kaiserschnitt entschieden“, sagt sie. Ihr erstes Kind hatte sie wegen einer Beckenendlage problemlos per Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Beim zweiten wollte sie es auf natürlichem Wege versuchen.
*Der Name ist von der Redaktion geändert.
Von Anja Sokolow (dpa)