Die Hochschule Ravensburg-Weingarten hat einen Assistenzroboter entwickelt, der das Leben von körperlich eingeschränkten Menschen erleichtern könnte. Wie sähe das im Alltag aus?
Marvin und Marvin verstehen sich schon richtig gut. Der eine ist 18 Jahre alt, körperlich behindert, sitzt im Rollstuhl und ist auf Hilfe angewiesen. Der andere ist ein Roboter, der von der Hochschule Ravensburg-Weingarten in Baden-Württemberg entwickelt wurde – und der für den Menschen Marvin Thurner eine echte Unterstützung im Alltag und Haushalt werden könnte.
Thurner lebt im Internat des Körperbehindertenzentrums Oberschwaben (KBZO) in Weingarten (Kreis Ravensburg). Er hat eine sogenannte Infantile Zerebralparese und Tetraspastik. Zusammen mit anderen Schülern testete er den Prototypen des Pflegeroboters. So kann Roboter-Marvin dem Mensch-Marvin ein Glas Wasser einschenken oder ihm einen Apfel reichen.
Expertin: „Technik macht körperlich Behinderten den Alltag leichter“
Damit die Hilfsmittel sich aber stärker durchsetzen, müssten in den nächsten Jahren noch zwei Hürden genommen werden, sagt die Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung in Baden-Württemberg, Jutta Pagel-Steidl. Zum einen sei die Nutzerfreundlichkeit entscheidend, sagt die Expertin. „Dass es wirklich auf Akzeptanz stößt, dafür braucht es eine einfache Bedienung.“Der zweite Faktor sei die Frage, wer zahlt. „Im Moment herrscht noch der Eindruck, dass es sich beim Thema Smart Home um Luxus handelt.“Allerdings böte die technische oder digitale Hilfe die Möglichkeit, länger und vor allem selbstständiger zu Hause leben zu können. „Das spart eventuell eine stationäre Heimunterbringung. Oder ich stürze beispielsweise nicht – weil ich mit einem Händeklatschen nachts das Licht anmachen kann. Dann braucht die Krankenkasse auch nicht die Folgekosten eines klassischen Oberschenkelhalsbruchs zu finanzieren“, sagt Pagel-Steidl. „Man muss das Bewusstsein dafür schaffen, dass das kein Luxus ist, sondern Prävention im Alltag.“
Schachspielen ist für den Computer einfach, die Tür im Raum zu finden nicht
„Marvin, hol mir Chips aus der Küche und bringe sie mir“, sagt Dusan Zagorac. „Du möchtest, dass ich dir Chips bringe – ist das korrekt?“, fragt Marvin nach – ein wenig förmlich. „Okay, ich hole das Objekt Chips und bringe es dir.“ Dusan Zagorac ist von Geburt an körperlich eingeschränkt. Er lebt wie Marvin Thurner im KBZO-Internat und ist von dem Assistenzroboter begeistert. „Marvin ist eine super Sache“, sagt der 16-Jährige. Etwas aus einem Regal oder einem Schrank zu holen oder wieder einzuräumen sei für ihn alleine nicht möglich. Nur mit der Flaschenöffnungsfunktion hapere es beim Roboter noch etwas, sagt er. „Aber Marvin ist ja erst der Anfang.“
Entwickelt wurde Roboter Marvin am Institut für Künstliche Intelligenz der Hochschule. Gerade mit Blick auf Marvins Alltagstauglichkeit stecke der Teufel aber im Detail, sagt der Instituts-Leiter Wolfgang Ertel. Trivialwissen, das für Menschen selbstverständlich sei, müsse im Fall eines Roboters jeweils einzeln programmiert werden.
So sei es für einen Computer einfacher, jemanden im Schach zu besiegen, als etwa ein Fenster an der Wand zu erkennen oder die Tür im Raum zu finden. „Uns mit Roboterprogrammierung zu beschäftigen, ist unser Beruf, unsere Leidenschaft“, sagt Wolfgang Ertel. „Aber hier haben wir die Möglichkeit, den Menschen direkt in ihrem Alltag behilflich zu sein. Das ist für uns eine ganz andere Dimension.“
„Marvin ist aber noch nicht fertig“
Dass der Bedarf da sei, das steht auch für Projektmitarbeiterin Barbara Weber-Fiori außer Frage. „Für Menschen mit körperlichen Behinderungen geht es um den Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, auch um das Gefühl der Sicherheit“, sagt die Wissenschaftlerin der Hochschulfakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege.
Der technische Fortschritt böte eine große Bandbreite von Möglichkeiten, um das Leben von Menschen mit Einschränkungen barrierefreier und komfortabler zu machen, sagt auch der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der „Zieglerschen“, Rolf Baumann. Das diakonische Unternehmen aus Wilhelmsdorf (Kreis Ravensburg) begleitet den Praxistest von Marvin. Technische Grundlagenforschung, wie sie die Hochschule mit dem Pflegeroboter betreibe, sei für die Entwicklung solcher Systeme unerlässlich.
Im kommenden Jahr wollen die wissenschaftlichen Mitarbeiter Benjamin Stähle und Steffen Pfiffner mit Marvin beim „Robocup“, dem führenden Wettbewerb für intelligente Roboter und einem der weltweit bedeutendsten Technologieevents, antreten. „Marvin ist aber noch nicht fertig“, sagt Professor Wolfgang Ertel. „Unser Ziel ist nicht die Produktentwicklung, wir wollen nur aufzeigen, was möglich ist, was geht und machbar ist. Die Industrie hat nun die Chance, den Ball aufzunehmen.“
Von Brigitte Geiselhart (dpa )