Suizid – eine Zerreißprobe für Angehörige

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Der Suizid seiner Frau stürzt Jürgen in eine tiefe Krise. Seit vier Jahren kämpft er sich aus der Trauer zurück in ein normales Leben. Dabei helfen ihm und anderen Hinterbliebenen das Trauerangebot eines Vereins. Aber auch eine zweite Beerdigung.

Die Worte, die das Leben von Jürgen an einem Morgen im März für immer verändern, wird er nie vergessen. „Ist das Ihre Frau, die dort unten liegt?“ Kurz zuvor hatte ein Nachbar so lange und laut an seine Tür gehämmert, bis Jürgen aus dem Schlaf geschreckt war. Die Frage hallt noch in seinem Kopf, als er ihm wie betäubt folgt. Im Keller findet er seine Frau, um sie herum eine Blutlache. „Wie ein Fisch auf dem Trockenen, der nach Luft schnappt“, schießt es ihm durch den Kopf. Sie hatte sich aus dem ersten Stock des Treppenhauses gestürzt.

Vier Jahre ist ihr Suizid her. Heute sagt Jürgen, der hier seinen Nachnamen nicht nennen will: „Sie hat die Belastung einfach nicht mehr ausgehalten.“ 17 Jahre waren sie verheiratet. Zuletzt war das Zusammenleben immer schwieriger geworden. Ein seltener Gendefekt hatte die Frau nach und nach erblinden lassen, dazu litt sie unter einer Psychose. Ärztliche Hilfe lehnte sie ab. Zu der Zeit waren beide schon im Rentenalter. „Bis zum Schluss hatte ich die Hoffnung, dass sie sich wieder fängt.“

Nach einem Suizid stehen oft viele Fragen im Raum

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) nehmen sich bundesweit pro Jahr rund 10 000 Menschen das Leben. In Baden-Württemberg sind es laut Statistischem Landesamt etwa 1300. Zurück bleiben Partner, Eltern, Freunde, die mit der Situation meist überfordert sind. Nach dem Tod seiner Frau verfiel Jürgen in einen Schockzustand. Seine Familie wusste nicht mehr weiter. Jürgen suchte Hilfe und fand sie beim Arbeitskreis Leben in Stuttgart. „Das war mein Ausweg ins Überleben“, sagt er. „Ohne die Gespräche dort hätte ich diese Phase nicht so gut überstanden.“

Den Verein gibt es seit mehr als 30 Jahren. Die Mitarbeiter kümmern sich um Suizidgefährdete, aber auch um die Hinterbliebenen. Einzelgespräche und Trauergruppen sollen dabei helfen, mit der Situation umzugehen. Außerdem laden sie einmal im Jahr, meist im Oktober, zu einer Gedenkfeier ein. Ein Angebot, um noch einmal in Würde Abschied zu nehmen, eine Art zweite Beerdigung, erklärt Ellen Wittke vom Arbeitskreis.

Kurz nach dem Suizid machen sich Angehörige oft Selbstvorwürfe, viele Fragen stehen im Raum, es fällt schwer, über das Geschehene zu sprechen. „Die Beerdigung fand oft unter furchtbaren Umständen statt“, sagt Wittke. „Freunde und Bekannte erwähnen die Toten oft nicht mehr, wir möchten zeigen, dass sie weiterhin einen Platz im Leben haben.“

„Nachhaken und fragen, was los ist“

Auch Jürgen ist jedes Jahr dabei, bringt sich bei den Vorbereitungen ein. Er zieht Kraft aus der Gemeinschaft mit anderen, die dasselbe erlebt haben wie er. Fester Bestandteil: Hinterbliebene können die Namen der Verstorbenen notieren, diese werden später laut vorgelesen. „Ein sehr bewegender Augenblick“, sagt Wittke.

Die DGS zählt online bundesweit rund 100 Hilfseinrichtungen wie den Arbeitskreis Leben auf. Geschäftsführer Michael Witte sagt, dass diese jedoch höchst unterschiedlich verteilt seien. Vor allem in den neuen Bundesländern würde es an ausreichenden Angeboten fehlen, in Thüringen etwa gebe es keine einzige derartige Beratungsstelle.

Frühzeitige Hilfe ist wichtig, betont Elmar Etzersdorfer, Facharzt für Psychiatrie und stellvertretender Vorsitzender der DGS. Die Gesellschaft sei inzwischen auch eher für das Thema sensibilisiert – „in den 80er Jahren lag die Suizidrate etwa doppelt so hoch.“ „Viele Menschen kündigen ihren Suizid direkt oder indirekt an“, sagt Etzersdorfer. „Wenn sich jemand immer mehr zurückzieht, seine Hobbys aufgibt und sein Leben sinnlos findet, muss man nachhaken, was los ist.“ Die DGS informiert unter www.suizidprophylaxe.de, Beratung bietet zum Beispiel auch die Telefonseelsorge.

Lernen, den Verlust auszuhalten

Jürgen hatte seine Frau zuletzt fast rund um die Uhr gepflegt. Trotzdem wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass sie sich umbringen will. Nach dem Fund im Keller bekam er Schnappatmung, kämpfte mit der aufkommenden Panik. „Man darf Angehörige in einer solchen Situation nicht alleine lassen“, sagt Hanns Günther. Der Pfarrer leitet die Notfallseelsorge in Stuttgart und hält die Predigt bei der Gedenkfeier. Er ist oft dabei, wenn Menschen vom Suizid eines Angehörigen erfahren. „Zu signalisieren: Ich habe jetzt Zeit für dich, ist extrem wichtig.“ Günther erlebt, wie unterschiedlich sie mit dem Verlust umgehen. „Manche schreien oder werden hysterisch, andere reden ganz viel oder sitzen einfach nur still in der Ecke.“

Auch heute noch überfällt Jürgen immer wieder die Erinnerung an seine Frau. Er bekommt Panikattacken. Das Bild aus dem Keller geht ihm nicht aus dem Kopf. Trotzdem sagt er, dass er wieder Freude am Leben finde: „Ich habe gelernt, das auszuhalten.“

Von Christine Luz (dpa)