„Tote Mädchen lügen nicht“: Darf man Suizid so zeigen?

Der Streamingdienst Netflix hat mit „Tote Mädchen lügen nicht“ einen Hit gelandet. Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens, das sich selbst tötet. Vor allem Mediziner laufen gegen die Art der Inszenierung Sturm – sie fürchten Nachahmer-Effekte.

„Ich werde dir jetzt die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben ein Ende fand.“ Eigentlich reichen zwei Sätze, um die Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ zu beschreiben. Gesprochen werden sie von Hannah Baker, um die sich die Handlung dreht. Dass es keine normale Erzählung wird, deutet aber schon ihr nächster Satz an. Er bezieht sich auf ihren Tod. „Und wenn du diese Kassetten hörst: Dann bist du einer der Gründe dafür.“

Der amerikanische Streamingdienst Netflix erzählt Hannahs fiktive Geschichte allerdings nicht nur in zwei oder drei Sätzen, sondern in 13 Episoden. Als kürzlich die zweite Staffel angekündigt wurde, war das eine große Nachricht, weil über kaum eine andere Produktion zuletzt so sehr diskutiert wurde. Der Grund: Die Serie macht einen Suizid zum Thema, den von Hannah. Anschließend werden Kassetten gefunden, in denen die Schülerin Vorwürfe erhebt – gegen Freunde, Familie und Mitschüler.

Kunstfreiheit kollidiert mit Suizidprävention

Vor allem die Art, wie die Macher die Geschichte inszenieren und erzählen, lässt viele Mediziner Sturm laufen. Sie fürchten den sogenannten Werther-Effekt. Er beschreibt, dass dramatisierende, detaillierte oder heroisierende Darstellung von Selbsttötungen in den Medien suizidgefährdete Menschen dazu bringen können, Ähnliches zu tun. Der Name ist an Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ angelehnt. Nach der Veröffentlichung 1774 kam es zu einer Reihe von Suiziden junger Männer. Der Effekt gilt heute als belegt.

Auch „Tote Mädchen lügen nicht“ basiert auf einem Buch, dem Bestseller des Amerikaners Jay Asher. In Zeiten des Serien-Booms erreicht der Stoff nun als Netflix-Produktion ein noch größeres Publikum. Kritiker werfen ihr dabei genau das vor, was den Werther-Effekt begünstigt: Details, Dramatisierung, Heroisierung. Kunstfreiheit kollidiert mit Suizidprävention.

„Das größte Problem ist die Darstellung des Suizids selbst“, sagt Ute Lewitzka von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Hannahs Vorgehen wird sehr genau beschrieben. Der Tod werde zwar sehr brutal und nicht schön dargestellt, sagt Lewitzka. „Aber wir wissen: Je mehr von diesen Bildern gezeigt wird, desto größer ist das Potenzial, zum Nachahmen anzuregen.“ In der Literatur seien sogar Fälle von Fünfjährigen beschrieben, die Suizidhandlungen nachspielen, nachdem sie sie im Fernsehen gesehen haben.

Für ähnlich problematisch halten Experten den Kontext, in den Hannahs Tod gesetzt wird. „Die Serie vereinfacht die Gründe für den Suizid massiv“, sagt Markus Schäfer, der an der Uni Mainz zur Wechselwirkung zwischen Medieninhalten und Suiziden forscht. Normalerweise gebe es sehr viele Faktoren, vor allem auch psychische Erkrankungen. „Das ist hier überhaupt nicht der Fall, sie wirkt gesund.“ Stattdessen würden etwa Mobbing und Ablehnung gezeigt. Schäfer nennt das „anschlussfähig“. Gerade für Teenager habe die Figur ein hohes Identifikationspotenzial. Und am Ende erfahre Hannah scheinbar posthume Anerkennung für ihr Vorgehen. „Das ist eine schräge Gesamtkonstellation“, sagt Schäfer.

Neuseeland reagiert mit Altersbeschränkung

„Ein Gesunder wird durch eine Serie nicht suizidal“, sagt Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. „Aber für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist es ein Risiko.“ Ein Großteil der Suizide erfolge im Kontext einer depressiven Erkrankung.

Und wie weiter? In Neuseeland, einem Staat mit einer der höchsten Suizid-Raten unter Jugendlichen, reagierte die Medienaufsichtsbehörde mit einer Altersbeschränkung. Teenager unter 18 sollten die Serie nur noch im Beisein von Erwachsenen schauen. „Ein Suizid sollte für niemanden als Ergebnis eines mit klarem Kopf gefassten Gedankens dargestellt werden“, hieß in der Erklärung. Ute Lewitzka rät Eltern und Lehrern, Kinder und Schüler auf die Serie anzusprechen und nach Möglichkeiten zu suchen, sie unter kompetenter Begleitung anzuschauen.

Es gebe aber nicht nur den Werther-Effekt, sagt sie. Es gebe auch den Papageno-Effekt. „Medien können auch suizidpräventiv wirken. Das geschieht durch Berichterstattung über Menschen, die in suizidalen Krisen waren – und die Wege aufzeigt, wie sie rausgekommen sind.“

Von Jonas-Erik Schmidt (dpa)