Es muss nicht so ein furchtbarer Fall sein, wie der des bei Freiburg missbrauchten Jungen. Doch wenn das Jugendamt eingreift, muss es oft schnell gehen. Dafür gibt es Bereitschaftspflegeeltern. Eine Familie im Schwarzwald stellt sich der Herausforderung.
Platz ist nicht viel in der guten Stube: Neben einem Kinderhäuschen gibt es eine Sofaecke, an den Wänden Regale und Terrarien, als Raumteiler ein Aquarium und als Herzstück ein liebevoll gedeckter großer Tisch. Dazwischen Kinder, zwei Welpen und ein weißer Igel. Kindergeburtstag könnte man meinen, zumal die „Happy-Birthday“-Girlande noch hängt. Doch der war schon. Bei Familie W. ist auch so immer was los. Sie hat derzeit acht Kinder: Vier eigene, zwei Pflegekinder, die schon länger da sind, und zwei, die vor Weihnachten dazukamen.
„Wir sind eine richtige Patchwork-Familie“, sagt Christiane W., die Pflegemutter. Die Familie in Birkenfeld bei Pforzheim ist eine von 14 Bereitschaftspflegefamilien im Enzkreis im Schwarzwald, die jederzeit Kinder in Not aufnehmen.
„Familien für Bereitschaftspflege sind Mangelware“
Immer auf Abruf zu sein, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten, sich jedes Mal auf ein Kind neu einzustellen und es dann nach kurzer Zeit wieder abgeben zu müssen: „Das ist nicht einfach. Da wird Familien ganz schön was abverlangt“, erzählt Carmen Thiele vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD). „Familien für Bereitschaftspflege sind Mangelware.“
Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Jugendämter nahmen in Deutschland allein 2016 rund 84.200 Kinder in Obhut, etwa weil die Eltern sich trennen, zu sehr im Job eingespannt oder krank sind, ein Suchtproblem haben oder Kinder durch einen Unfall zu Waisen wurden. Darunter sind nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums rund 15.000 Kinder in Bereitschaftspflege.
Kinder wie der neunjährige Aljoscha und sein zwei Jahre älterer Bruder Pjotr zum Beispiel. Bei ihnen schritt Ende des Jahres das Jugendamt Enzkreis ein. Nachdem Pjotr zur Polizei gegangen war. Es ging nicht mehr: zuviel Alkohol und Gewalt in der Familie.
Oder wie die 14-jährige Ranja, die es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Ihr alleinerziehender Vater ist nach einem Unfall der Mutter überfordert. „Er trinkt zuviel.“ Die 16-jährige Carina hat sich vor ihrer depressiven Mutter und den Streitereien mit dem Stiefvater in psychogene Anfälle geflüchtet. Die Gegenwart ist dann ausgeknipst. Seit Wochen ist sie in einer therapeutischen Einrichtung, besucht aber ab und an ihr Wunsch-Zuhause bei Familie W. in Birkenfeld.
Am längsten ist die zweijährige Nina dort. Sie kam schon im Alter von vier Monaten zu der Familie. „Ich habe gerade gekocht“, berichtet die Pflegemutter. „Da kam der Anruf vom Jugendamt: Wir hätten ein Baby. Können Sie es holen?“ Sie ist sofort losgefahren. Die erste Begegnung war ein Schock: „Die Kleine hatte rabenschwarze Füße. Sie war vollkommen apathisch. Wir dachten, sie ist blind und taub.“
Manche Kinder verstummen
Als das Jugendamt Nina aus ihrer Familie holte, war sie völlig verwahrlost. In ihrem neuen Zuhause spielt die Zweijährige nun mit Christiane W.s Tochter Jana. „Sie hat sich gut entwickelt“, sagt die Pflegemutter. Auffällig seien aber Ninas regelmäßige Wutausbrüche.
Was genau Kinder erlebt haben, bleibt oft im Dunkeln. Sie selbst erzählen nicht unbedingt viel. Aus Scham, aus Angst, aber auch aus Loyalität zu den leiblichen Eltern. Einige, wie Ranja, reden offen. Andere, wie Aljoscha, machen eher dicht. „Manche Kinder verstummen“, sagt Jürgen Strohmaier, der für Pflegekinder zuständige Referatsleiter beim Landesjugendamt in Baden-Württemberg.
Susanne Wendlberger ist die Jugendamt-Betreuerin für die Pflegefamilie W.: „Kinder wollen meist nichts Böses über ihre Eltern sagen.“ Und oft wollten sie trotz schlimmster Erfahrungen nur eines: möglichst schnell wieder zurück.
Manchmal geht es zu schnell, meint Pflegevater Matthias W., der an das Schicksal des bei Freiburg über Jahre missbrauchten Schülers denkt. Der Neunjährige, der nach der Verhaftung seiner Mutter im Herbst aus seiner Familie genommen wurde, war schon zuvor – nach ersten Hinweisen – kurz in staatlicher Obhut gewesen. Doch dann schickte ihn das Familiengericht wieder nach Hause, der Missbrauch ging weiter.
Tausende Male im Jahr schreiten Jugendämter einer Gefährdung des Kindeswohls ein
„Das Problem sind oft die Familiengerichte“, sagt Matthias W. Ein dreiviertel Jahr hatte die Pflegefamilie ein kleines Mädchen bei sich. „Es war wie ein Geschwisterchen für uns“, erzählt Tochter Jenny. Dann wurde es wieder zur psychisch kranken Mutter zurückgebracht. Familie W. hat das fast das Herz gebrochen. Was aus dem Kind geworden ist? Sie wissen es nicht.
Elternrecht gegen Kinderrecht? Referatsleiter Strohmaier erkennt durchaus unterschiedliche Perspektiven. Es komme darauf an, diese besser zusammenzubringen, betont er. Ob vernachlässigt, geschlagen oder misshandelt – Tausende Male im Jahr schreiten Jugendämter ein, weil sie das Kindeswohl gefährdet sehen. Um Kinder kurzfristig aus Familien in Krisen nehmen zu können, brauchen sie Bereitschaftspflegefamilien. Manche Kinder sind dort nur wenige Stunden, manche mehrere Monate – und einige bleiben für immer.
Wegen der vielen Kinder ist bei Familie W. alles ein bisschen anders: Das Auto ist größer, der Kühlschrank XXXL, und der Urlaub wird im Naherholungsgebiet in zwei Wohnwagen verbracht. Die Nächte sind oft kurz. Wenn die Jüngste im Bett ist, gönnt sich Christiane W. eine kleine Auszeit. Dann ist aber auch schon die Stunde, die Jana und Jenny nutzen, um Mama mal für sich zu haben. „Wir sind ja ganz normale Leute. Und jedes Kind trägt hier sein Päckchen mit sich. Das ist manchmal nicht ohne.“
Von Susanne Kupke (dpa)