Die Sprachstörung Aphasie ist kaum bekannt. Den Betroffenen liegen die richtigen Worte auf der Zunge, aber sie können sie nicht äußern. Außenstehende halten die Patienten manchmal für verstockt, depressiv oder gar geistig behindert.
In der Klinik Niedersachsen helfen Karten mit bunten Bildern Schlaganfall-Patienten, ihre verlorenen Worte wiederzufinden. Auf einer Karte ist ein Affe abgebildet, auf einer anderen eine Banane. Der Mann mit den kurz geschorenen grauen Haaren beugt sich über den Tisch und legt mit kleinen Holzbuchstaben das Wort Elefant. Es ist in seinem Kopf, aber es fällt ihm schwer, es auszusprechen. Im Herbst hat der 55-Jährige aus dem Kreis Nienburg einen Schlaganfall erlitten, im Aphasie-Zentrum der Klinik in Bad Nenndorf macht er täglich Fortschritte. Der großgewachsene Manager ist ein offener Typ, er lacht viel und versucht, so gut er kann, sich mitzuteilen. Dabei stößt er immer wieder an seine Grenzen.
Mehr als 100.000 Menschen in Deutschland haben eine Aphasie, die meisten von ihnen als Folge eines Schlaganfalls. Im schlimmsten Fall können sie sich gar nicht mehr äußern oder nur noch Ja und Nein sagen. Andere vertauschen Laute und Wörter, können keine ganzen Sätze mehr bilden oder haben Wortfindungsstörungen. Eine Aphasie betrifft oft auch das Verstehen, Lesen und Schreiben. Es ist aber keine Denkstörung, die Patienten sind geistig völlig klar und haben auch ihr zuvor erworbenes Wissen noch parat.
Ein halbes Jahr nach dem Schlaganfall sind Sprachtherapien noch immer sinnvoll
„Das ganze Ausmaß der Aphasie ist in der Bevölkerung viel zu wenig bekannt“, sagt der Chefarzt der Neurologie der Klinik Niedersachsen, Hans Jörg Stürenburg. Gegen die Sprachstörungen gebe es keine Medikamente. Wichtig sei, möglichst früh mit einer intensiven Sprachtherapie zu beginnen. „Viele Betroffene tragen schwer daran, sozial ausgegrenzt zu werden“, berichtet Sprachheilpädagogin Daniela Kraune. „Sie werden oft abgestempelt, nach dem Motto: ‚Der ist betrunken, nicht ganz dicht oder behindert’.“
Anlässlich des Tages gegen den Schlaganfall am 10. Mai weist der Bundesverband Aphasie darauf hin, dass Patienten mit Sprachstörungen häufig bürokratische Hürden zu überwinden haben. Nach der Entlassung aus der Reha-Klinik müssten die Genehmigung einer intensiven ambulanten Sprachtherapie und die Kostenübernahme durch die Krankenkassen einfacher werden, fordert die Geschäftsführerin des Selbsthilfeverbandes, Dagmar Amslinger.
Eine 2017 im Fachmagazin „Lancet“ veröffentlichte Studie unter Leitung von Sprachforschern der Universität Münster belegt, dass die intensive Sprachtherapie für Aphasie-Patienten auch dann noch wirkt, wenn der Schlaganfall ein halbes Jahr oder länger zurückliegt. Nicht betroffene Hirnbereiche übernehmen die Funktion des zerstörten Sprachzentrums, das bei den meisten Menschen in der linken Hirnhälfte liegt. Einige Patienten sind zwar fast völlig verstummt, können aber noch Volkslieder anstimmen, Floskeln äußern oder fluchen, denn diese sind meist in der rechten Hirnhälfte abgespeichert.
In der Bad Nenndorfer Reha-Klinik bekommen schwer betroffene Patienten bis zu zehn Stunden wöchentlich Sprachtherapie: allein, in Gruppen, computergestützt und als Alltagstraining, etwa beim Einkaufen.
Manche verwechseln Nicken und Kopfschütteln
Im Aphasie-Regionalzentrum-Klinik Niedersachsen trifft sich zudem einmal im Monat eine Selbsthilfe-Gruppe, zu der Betroffene und deren Angehörige gehören. Bei Marion Schlüchtermann etwa liegt der Schlaganfall schon fast zehn Jahre zurück. Der 51-Jährigen ist nicht anzumerken, dass sie komplett neu sprechen lernen musste. Sie wirkt topfit, deshalb wird in ihrer Umgebung häufig vergessen, dass sie nicht mehr so belastbar ist wie früher.
Auch Maraike Coith hat sich nach einem Reitunfall 2011, bei dem sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt, zurückgekämpft. Anfangs habe sie mitunter sogar Nicken und Kopfschütteln verwechselt, berichtet ihr Ehemann. Inzwischen hat das Paar einen kleinen Sohn, die 39-Jährige arbeitet wieder. Nur manchmal, zum Beispiel vor wichtigen Telefongesprächen, überfällt Maraike Coith die Panik aus der Zeit, als ihr die Worte fehlten: „Mein Gehirn war wie eine Kommode mit vielen Schubladen, aber ich wusste nicht mehr, in welcher das Wort, das ich suchte, abgelegt war.“
Von Christina Sticht (dpa)