Alter ist keine Krankheit

© Isis Struiksma

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Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ ist fest im Pflegeversicherungsgesetz verankert. Zu spüren ist davon allerdings wenig. Ein Kommentar von Ursula Lehr, Ex-Bundesgesundheitsministerin.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis ins hohe Alter unabhängig leben können, ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Heute sind etwa 30 Prozent der 85-Jährigen pflegebedürftig, das heißt rund 70 von 100 sogenannten Hochbetagten meistern ihren Alltag nach wie vor kompetent allein. Jahr für Jahr gratuliert unser Bundespräsident immer mehr Menschen zu ihrem 100. Geburtstag.

Das Alter selbst ist keine Krankheit. Trotzdem stimmt es, dass mit dem Älterwerden die Wahrscheinlichkeit krank zu werden steigt. Auch dauert es meist länger, wieder gesund zu werden. Deshalb ist Rehabilitation – also das Wiedergewinnen von Fähigkeiten in Folge einer Krankheit oder Behinderung – so wichtig. Natürlich kann ich, nachdem ich mir die Hüfte gebrochen habe, erst einmal mit Unterstützung eines Rollators laufen. Das Ziel sollte jedoch sein, wieder allein zu gehen – egal, ob mit 85 oder darüber hinaus.

Der Erfolg einer Reha-Maßnahme hat nichts mit dem Alter der Patienten zu tun. Jeder noch so kleine Schritt, sei es nach einem Sturz oder auch nach einem schweren Schlaganfall, der mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit bringt, erleichtert unser Leben. Tatsächlich bedeutet Rehabilitation nicht, dass der Mensch wieder zu 100 Prozent funktionieren muss. Auch zu verhindern, dass er in eine höhere Pflegestufe abgleitet, ist bereits ein Erfolg.

© BAGSO - Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V.

© BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V.

Zur Person
Professorin Ursula Lehr war von 1988 bis 1991 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Bis 2015 war sie die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisation (BAGSO). Außerdem gilt Ursula Lehr als Pionierin auf dem Gebiet der Gerontologie (Alterskunde).

Fragwürdige Altersgrenzen

Nicht umsonst ist im Pflegeversicherungsgesetz ausdrücklich der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ verankert. In der Realität wird er jedoch leider nicht hinreichend beachtet. Das zeigt auch ein Blick auf die Zahlen: Seit 2012 müssen Ärzte, die die Pflegebedürftigkeit eines Menschen begutachten, auch seinen Rehabilitationsbedarf prüfen. Ergebnis: Nach einer Million Begutachtungen wurden lediglich 5.000 Empfehlungen zur Rehabilitation ausgesprochen.

Ein Grund ist sicher, dass viele Ärzte noch immer ein allzu negatives Bild vom Alter haben. Auch die vielen Formulare, die zur Begründung einer Reha-Maßnahme nötig sind, scheinen manchen Arzt davon abzuhalten, für seine Patienten einen Antrag auf Rehabilitation zu stellen.

Ist diese Hürde genommen, streiten oft genug Kranken- und Pflegekasse darüber, wer zum Beispiel nach dem Oberschenkelhalsbruch die Kosten für die Physiotherapie tragen muss. So etwas ist nicht nur aufreibend, es verhindert auch, dass die Patienten zeitnah versorgt werden.

Ebenso fragwürdig sind Altersgrenzen bei Transplantationen. Dass ein Patient bei einer Herztransplantation in der Regel nicht älter als 70 sein sollte, mag auf den ersten Blick verständlich scheinen. Tatsächlich sollte allein der Gesamtzustand des Menschen entscheidend sein, nicht die Anzahl seiner Lebensjahre.

Gesundheit leben

Der Ansatz „Rehabilitation vor Pflege“ beginnt in unseren Köpfen. Und zwar in denen von uns allen: den Ärzten und Funktionären, den Angehörigen und nicht zuletzt den Alten selbst. Hier gilt es anzusetzen.

Victor von Weizsäcker, der Begründer der psychosomatischen Medizin, hat einmal gesagt: „Gesundheit baut sich nicht im Laufe des Lebens, des Älterwerdens ab, sondern Gesundheit ist dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick des Lebens neu erzeugt wird.“ Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Rehabilitation – und zwar unabhängig vom Alter.

 

 

Isis StruiksmaIsis Struiksma, geboren in Amsterdam, lebt und arbeitet seit 2013 als Illustratorin und Designerin in Berlin. Für das Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN illustriert sie 2016 die Texte in der Rubrik “Meinung”.