„Aus der Vorfreude auf mein Kind wurde Angst“

© rowohlt Verlag

Noch während der Schwangerschaft erfuhr Sandra Schulz, dass ihr Kind eine Behinderung haben wird. Dennoch entschied sie sich, das Mädchen zu bekommen. Über ihre Erlebnisse hat Schulz, die auch Journalistin ist, nun ein Buch geschrieben. Im Interview erzählt sie, wie das Schreiben ihr während der Schwangerschaft geholfen hat, die für sie richtige Entscheidung zu treffen und welche Vor- und Nachteile die Pränataldiagnostik ihrer Ansicht nach hat.

Katharina Alexander: Neun von zehn Paaren treiben bei der Diagnose Trisomie 21 ab. Woher kommt diese Angst vor einem Leben mit Kind mit Behinderung?

Sandra Schulz: Da kann ich nur für mich sprechen. Als ich die Diagnose bekam, hatte ich zunächst das Gefühl, ein Ja zu meinem Kind würde bedeuten, dass mein Leben – so wie ich es kannte, wie ich es mochte – vorbei wäre. Wir alle versuchen doch, unser Leben so einzurichten und zu gestalten, dass wir damit zufrieden sind. Plötzlich schienen all meine Pläne, all meine Ziele und Träume infrage gestellt. Ich hatte Angst vor dem, was mich erwartet. Wir haben im Alltag meist so wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung, dass man sich nicht vorstellen kann, wie das Leben dann aussehen würde.

Zweifel sind also in Ordnung?

Ich finde ja. Es ist in Ordnung, auch mal traurig, wütend und enttäuscht zu sein. Man darf sich fragen: „Warum muss ausgerechnet ich diejenige sein, die dieses Ergebnis erhält?” Aber dieses Hadern am Anfang, das kann auch wieder vergehen und dann findet man zu dem Gefühl der Liebe und Verbundenheit zu seinem Kind zurück. Diese negativen Gefühle müssen nicht zwangsläufig zu einem Abbruch führen. Deswegen ist es so wichtig, dass man sich Zeit nimmt für die Entscheidung, auch wenn man das Bedürfnis hat, der inneren Zerrissenheit so schnell wie möglich zu entfliehen.

Beim Lesen kann man in eine Welt eintauchen, ohne sie sich zu eigen zu machen

Warum haben Sie über Ihre Erlebnisse ein Buch geschrieben?

Ich bin Journalistin und in der Schwangerschaft hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, Schreiben wäre das Einzige, was mir bleibt. Deswegen habe ich schon damals angefangen, Tagebuch zu schreiben. Ich bin jemand, der versucht, Dinge zu planen und vielleicht auch zu kontrollieren, doch plötzlich spürte ich: Ich bin dem Leben ausgeliefert. Zu
 schreiben hat mir das Gefühl gegeben, dass ich mein Leben immer noch in der
 Hand habe, wenigstens ein bisschen.

Hätte es Ihnen geholfen, während der Schwangerschaft ein Buch wie das Ihre zu lesen?

Ich habe damals tatsächlich ein Buch gelesen, das mich sehr berührt hat: ‘Lotta Wundertüte’ von Sandra Roth. Es ist kein leichtes Buch, man liest von der Zeit im Krankenhaus und von großer Angst. Trotzdem spürte ich, dass da eine sehr starke Frau schreibt, die glücklich darüber ist, mit ihrer Tochter zu leben. Das hat mir unglaublich viel Kraft gegeben. Außerdem haben Bücher den Vorteil, dass man in eine Welt eintauchen kann, ohne sie sich zu eigen machen zu müssen.

Sie konnten also „probefühlen“, ob Sie sich so ein Leben vorstellen können.

Genau. Ich habe mich während der Schwangerschaft oft sehr einsam gefühlt, trotz der Unterstützung meines Mannes und der Hilfe von Freunden und Familie. Da gab es diese innere Not, am Ende eine Entscheidung treffen zu müssen, die ich tragen muss. Die aber eigentlich kein Mensch tragen kann.

Können Sie dennoch nachvollziehen, dass sich Paare dafür entscheiden, ein Kind mit Behinderung abzutreiben?

Nachvollziehen natürlich, ich war ja anfangs nicht anders als die 90 Prozent, die sich gegen ein Kind mit Down-Syndrom entscheiden. Trotzdem fragen Sie mich das heute als Mutter eines behinderten Kindes. Darum schreit natürlich alles in mir auf, weil ich jetzt meine Tochter vor mir sehe. Diese Zahl ist heute nichts Abstraktes mehr, keine Statistik von vielen, die man irgendwo liest. Es tut mir heute weh, mir vorzustellen, dass Kinder wie unsere Tochter nicht geboren werden sollen. Deswegen möchte ich anderen auch gern sagen: Wir sind eine normale Familie mit einem behinderten Kind. Unsere Liebe zu unserem Kind ist genauso groß wie die von Eltern zu ihren nicht-behinderten Kindern. Natürlich ist unser Leben auch manchmal anstrengend.

Inwiefern?

Es gibt viele Arzttermine, Anträge bei Behörden, Formulare für die Krankenkasse, all das kostet Zeit und manchmal auch Nerven. Die Bürokratie ist ein Teil unseres Alltags, aber sie definiert nicht unser Leben. Was unser Leben ausmacht, sind die Momente, die auch andere Eltern mit ihren Kindern erleben. Wenn unsere Tochter Musik hört und anfängt zu tanzen, wenn sie strahlend über den Strand zum Meer läuft oder ihre ersten Pommes auf dem Campingplatz probiert …

Pränataldiagnostik ist ein Fluch – und ein Segen

Würden Sie sich wünschen, dass sich mehr Menschen für ihre Kinder mit Behinderung entscheiden?

Natürlich. Aber gleichzeitig würde ich nie einer Frau ihr Selbstbestimmungsrecht absprechen wollen. Das ist eine sehr individuelle Entscheidung. Wir sollten uns als Gesellschaft eher fragen: Welche Ängste schüren wir, dass ein Leben mit einem behinderten Kind so schrecklich erscheint? Welche Bilder von einem gelungenen Leben haben wir alle im Kopf und tragen sie an werdende Eltern heran? Der Titel meines Buches ist das Zitat eines Arztes: „Das ganze Kind hat so viele Fehler“. Ich habe diesen Satz zum Buchtitel gemacht, weil er zeigt, wie wir als Gesellschaft oft nur auf das vermeintlich Mangelhafte, das vermeintlich Fehlerhafte bei Menschen mit Behinderung schauen.

Sandra Schulz / Foto: Katrin Probst Photography

Ist die Pränataldiagnostik aus Ihrer Sicht also mehr Fluch als Segen?

Sie ist sehr ambivalent. Hat man ein unauffälliges Ergebnis, macht man sich meist keine Gedanken darüber, zu welcher Angst und Verzweiflung pränatale Untersuchungen auch führen können. Das Problem ist, dass man im Mutterleib zwar Auffälligkeiten feststellen kann, aber oft nicht sagen kann, wie sich diese Auffälligkeiten später auf das Leben des Kindes auswirken. Marja hatte zum Beispiel zu viel Hirnwasser im Kopf – aber niemand wusste, warum und was genau das für ihr Leben bedeuten wird. Eine zuverlässige Prognose ist oft nicht möglich, oder es gibt zwar eine Diagnose, aber keine Therapie im Mutterleib. Die Fortschritte in der Pränataldiagnostik führen dazu, dass wenig Raum bleibt für alle, die von der Norm abweichen. Und das verändert langfristig unser Bild vom Menschen und auch unsere Gesellschaft insgesamt. Verteufeln würde ich die Pränataldiagnostik im Ganzen trotzdem nicht.

Warum nicht?

Ohne die medizinischen Möglichkeiten wäre unsere Marja im Mutterleib gestorben – nur mit Hilfe der Pränataldiagnostik konnten die Ärzte den richtigen Zeitpunkt für einen Kaiserschnitt bestimmen. Auch dass Marjas Herzfehler schon im Mutterleib entdeckt wurde, war wichtig, um die richtige Klinik zur Entbindung auswählen zu können. Ich will die Pränataldiagnostik nicht abschaffen, aber ich glaube, wir sollten reflektierter mit ihr umgehen.

Welche Reaktionen beobachten Sie, wenn Menschen Marja zum ersten Mal treffen?

Viele, eigentlich die meisten, sind freundlich zu unserer Tochter. Marja ist ein aufgeschlossenes Kind, das gerne mit ausgestreckten Armen auf Menschen zuläuft. Bei uns im Supermarkt kennen sie alle schon, und ich muss Ausschau halten, auf wessen Arm sie gerade ist. Das ist sehr schön. Einige nehmen sie natürlich auch als Kind mit Behinderung wahr und haben, glaube ich, Probleme, ihre Gefühle zu sortieren: Kann ich das behinderte Kind einfach süß finden? Eine hässliche Bemerkung hat mir gegenüber noch niemand gemacht.

„Das ganze Kind hat so viele Fehler. Die Geschichte einer Entscheidung aus Liebe” ist im Rowohlt Verlag erschienen und kostet 14,99 Euro.

 

Dieses Interview ist zuerst bei EDITION F erschienen.

Katharina Alexander | Foto: Edition F

Katharina Alexander arbeitet für EDITION F, ein Online-Magazin für „starke Frauen“. Gegründet wurde das Magazin im Jahr 2014 von Nora-Vanessa Wohlert und Susann Hoffmann. EDITION F, so ihr Wunsch, soll Frauen eine Bühne geben und sie inspirieren, Neues auszuprobieren – nicht nur im Alltag, sondern auch im Job. Zu dem Magazin gehört auch das Projekt Female Future Force, ein digitales Coaching für Frauen.