„Das Perfekte, Symmetrische ist doch langweilig“

Winnie Harlow © picture alliance/CITYPRESS 24

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„Beschädigte Schönheit“ heißt das Buch von Lorenz Jäger. Wir sprachen mit dem FAZ-Redakteur und Soziologen darüber, wie sich die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung laufend ändert und warum Kommerz der Inklusion nicht schadet.

Redaktion: Bei der letzten Mercedes-Benz Fashion Week in New York lief das Model Rebekah Marine über den Laufsteg – mit einer bionischen Armprothese. Ein anderes Model saß im Rollstuhl. Zeigt sich hier eine neue Offenheit im Umgang mit körperlichen Behinderungen?

Lorenz Jäger: Zumindest spiegelt sich hier, was auch im Alltag sichtbar wird: In der Prothetik findet eine Ästhetisierung statt. Früher ging es Betroffenen – allen voran Frauen – darum, das fehlende Körperteil zu kaschieren. Heute werden Prothesen selbstbewusst gezeigt.

Der „Makel“ bekommt also einen eigenen Wert.

Das auch. Dass bei Fashion-Shows Prothesen in schwarz-metallic geradezu en vogue sind, liegt aber sicher auch an unserer aktuellen Technikverliebtheit. In den Medien werden Smartphones und Apps ja schon lange zur Verlängerung des menschlichen Körpers stilisiert. Solche Ästhetisierungen eines vermeintlichen Makels sind übrigens keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.

„Zerrspiegel sind mir zu platt“

Rebekah Marine © dpa

Rebekah Marine © dpa

Sondern?

Schon im Frühbarock gab es in der Dichtung das Bild der „schönen Hinkenden“ oder der „schönen Schielenden“. Das lag vor allem daran, dass die Dichter das Schönheitsideal der Renaissance – das Perfekte, Symmetrische – langweilte. Später schrieb Victor Hugo in „Der Glöckner von Notre Dame“ über die Empfindsamkeit eines Menschen, der wegen seiner körperlichen Behinderung stigmatisiert wurde. Das waren in der jeweiligen Zeit Akzentverschiebungen in der Wahrnehmung.

In Ihrem Buch „Beschädigte Schönheit“ haben Sie einige solcher Beispiele zusammengetragen. Was war der Anlass?

Mir geht die Forschung in diesem interdisziplinären Bereich, den sogenannten Disability Studies, nicht weit genug. Außerdem ärgere ich mich oft über die Art, wie Menschen mit Behinderung – teils sogar durch die eigene Lobby – immer noch dargestellt werden.

Was meinen Sie genau?

Mir ist das meistens zu pädagogisch. Nehmen wir das Hygiene-Museum in Dresden. Zusammen mit der Aktion Mensch organisierten sie eine Ausstellung darüber, wie Menschen mit Behinderung wahrgenommen werden. Im Eingangsbereich standen zwei Zerrspiegel. Im einen war ich dick, im anderen magersüchtig. Soll ich so Toleranz lernen? Mir ist das zu platt.

Winnie Harlow erzählt von sich und ihrer Krankheit 

Kommerz hilft Berührungsängste gegenüber Behinderten abzubauen

Wie geht es besser?

Pauschal lässt sich das natürlich nicht sagen. Klar ist aber: Man kann einer Gesellschaft kein Menschenbild diktieren. Das verändert sich durch Impulse. Den Veranstaltern der Fashion Week hat niemand befohlen: „Da muss jetzt ein Model ohne Arm mitlaufen.“

Womit wir wieder beim Laufsteg wären. Aber geht es da nicht schlicht um kommerzielle Interessen?

Na und? Wenn der Kommerz dabei hilft, Berührungsängste gegenüber Behinderten abzubauen, stört mich das wenig.

Fühlt sich trotzdem komisch an.

Für mich ist das ein Schritt in Richtung Normalität. Nehmen wir Winnie Harlow. Ein sehr erfolgreiches Model, das die seltene Hautkrankheit Vitiligo hat. Als das spanische Modelabel „Desigual“ sie buchte, tat es das nicht trotz, sondern wegen ihrer schweren Pigmentstörung. Die bunten, kontrastreichen Kleidungsstücke kamen auf ihrer Haut einfach besser zur Geltung, sie schienen dem Pigment-Kontrasten geradezu ein Echo zu geben.

“Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps” ist im zuKlampen! Verlag erschienen und kostet 16,– Euro.

 

Die Mercedes-Benz Fashion Week 2016 in New York – Ein Blick hinter die Kulissen