„Klar ist das im ersten Moment ein Schock.“ Das sagt eine Mutter über den Augenblick, als ihr Sohn die Diagnose erhält: Autismus. Für viele Familien wird damit der Alltag zum Kraftakt. Für Kinder bedeutet die Störung lebenslange Therapie – manche meinen auch Drill.
„Zahnbürste“, sagt Eva. „Zahnpasta“, sagt Aron. „Zahn-Bürste!“, wiederholt Eva. „Zahnbürste“, sagt Aron. Es macht klick: Immer wenn der 14-Jährige ein Wort richtig nachspricht, drückt Eva auf den Knopf des kleinen Kästchens in ihrer Hand. Der Zähler rückt eine Ziffer vor. Bald hat Aron die 20 erreicht. „Super!“, lobt Eva. Aron bekommt ein paar Minuten Auszeit – Belohnung und Entspannung für den autistischen Jungen.
Stunde um Stunde, jeden Tag, seit mehr als zehn Jahren – der Teenager braucht permanente Betreuung. Vormittags mit Eva Bassler, seiner Eingliederungshilfe in der Fröbel-Schule in Fellbach bei Stuttgart. Nachmittags mit drei Therapeutinnen zu Hause. Heute ist Beate da. Auf der Lern-Liste stehen: in die Hocke gehen, Zahlen erkennen, telefonieren. Aron ruft seine Mutter im Wohnzimmer an und bittet um ein Eis. „Aber gern, mein Schatz!“, sagt Katja Pleterski (44) und geht zum Kühlschrank.
Erwünschtes Verhalten verstärken, unerwünschtes ignorieren. Und üben, üben, üben. Das ist der Kern einer Therapie, die bei Kindern mit einem frühkindlichen Autismus als Standard gilt. Extremformen dieser Methode sind zwar umstritten. Sie werden als Drill und Dressur kritisiert. Für Familien wie die Pleterskis sind sie Hoffnung auf ein Leben, das nie leicht sein wird, aber leichter.
Manche Autisten lernen nie sprechen
Experten schätzen, dass 800.000 Menschen in Deutschland von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen sein könnten. Wie viele es genau sind, hängt von der Definition ab – und die ist sehr breit. Dazu zählen Menschen mit leichtem Asperger-Syndrom. Ihnen fallen soziale Kontakte schwer. Sie können aber wegen ihrer Detailverliebtheit gesuchte Spezialisten sein wie der Physiker Sheldon in der US-Serie „Big Bang Theory“.
Aron zählt zu den schweren Fällen, er hat frühkindlichen Autismus. „Die Hälfte der Autisten, die auf dem Spektrum dort stehen, wo Aron ist, lernen nie sprechen und tragen lebenslang Windeln“, sagt Katja Pleterski. Ihr Sohn war zwei Jahre alt, als sie die Diagnose bekam. „Klar ist das im ersten Moment ein Schock.“ Was kann ich tun, habe sie die Ärzte gefragt. Und zur Antwort bekommen: „Suchen Sie einen guten Heimplatz.“ Das kam für die Psychologin, die heute selbstständig als Coach arbeitet, nicht in Frage.
Als ihr Sohn sechseinhalb war, hat die Mutter ihn „mit viel Waschen und wenig Schlafen“ der Windel entwöhnt. Mit 14 kann er zwar keine ganzen Sätze sprechen, aber immerhin drei Worte aneinander reihen.
Aron lebt mit seiner Mutter, deren neuem Partner, seiner Schwester sowie tageweise bei seinem Vater in einem Ort nahe Stuttgart. 24 Stunden umsorgt von Menschen, die ihn akzeptieren, wie er ist. Und die ein Bindeglied bilden zur Welt da draußen. Einer Welt, in der Aron auf wenig Verständnis hoffen kann.
Besonders verstört reagieren andere, wenn Autisten heftige Anfälle bekommen. „Meltdowns“, Kernschmelzen, heißen die gefürchteten Zwischenfälle. Solche Ausraster werden auch für ihr Umfeld zur Belastungsprobe. Ausgelöst werden sie zum Beispiel durch Reizüberflutung, Frust oder das simple Wort „Nein“.
Mögliche Ursachen von Autismus
Es gibt verschiedene Erklärungen für die Entwicklung von Autismus, aber keine allgemeingültige Ursache. Forscher sagen, dass folgende Faktoren eine Rolle spielen können:
- Genetische Faktoren: Erblichkeit gilt als eine der Hauptursachen. Wenn ein Elternteil eine Autismus-Spektrum-Störung hat, ist das Risiko stark erhöht, ein betroffenes Kind zu bekommen. Ein „Autismus-Gen“ gibt es aber wohl nicht. Eher ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Gene und Umweltfaktoren verantwortlich.
- Neurologische Auffälligkeiten: Bei Menschen mit Autismus konnten Unregelmäßigkeiten der elektrischen Hirnströme beobachtet werden. Mit bildgebenden Verfahren konnten veränderte Funktionen und Strukturen im Gehirn nachgewiesen werden.
- Weitere Einflüsse der Eltern: Es gibt Studien, die nahelegen, dass autistische Störungen häufiger auftreten, wenn der Vater bei der Zeugung in höherem Alter ist. Belegt ist, dass bestimmte Krankheiten der Mutter während der Schwangerschaft Risikofaktoren bilden.
„Nein mag er gar nicht“, sagt Eva Bassler, die Aron in der Schule von 8 bis 15 Uhr keinen Schritt von der Seite weicht. Sogar auf die Toilette begleitet sie ihn. „Manchmal geht’s ganz schön ab“, sagt die Österreicherin. Sie habe gelernt, das nicht persönlich zu nehmen.
Der Streit um die richtige Behandlung
Sechs Kinder sitzen in der 9. Klasse von Hannah Kuhnle, die auch Aron besucht. „Die Mitschüler mögen ihn“, sagt die 25-Jährige, „auch wenn er schreit, Geräusche macht oder vor sich hin brabbelt.“
Sich wiederholende Verhaltensweisen sind typisch für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Seit ein paar Tagen ist es bei Aron ein ploppendes Geräusch mit geschürzten Lippen. Sein Körper ist oft angespannt, die Hände verkrampft, die Schultern hochgezogen. „Wenn er sich einmal am Tag richtig durchstreckt, dann war das ein guter Tag“, sagt Schul-Betreuerin Eva.
Was sie morgens im Unterricht anfängt, setzen Beate Mangold-Birli und ihre Kolleginnen nachmittags zu Hause fort, drei bis vier Stunden jeden Tag. Sie arbeiten mit einer Art Fahrplan, den Arons Mutter an den Wochenenden ausarbeitet. Darin stehen Lernziele und Aufgaben.
Im Wohnzimmer liegt Buddy, Arons Therapiehund, und wartet aufs Gassigehen. Andrea Patrzek hat die Promenadenmischung zum Autismus-Begleithund ausgebildet. „Die Lernmethode ist die gleiche“, sagt die Trainerin. Ob Verhaltenstherapie oder Hundeausbildung: „Beide arbeiten mit Verstärkung. Wir bestärken das richtige Verhalten und gehen auf Fehlverhalten nicht ein.“ Im Kern seien Hundedressur und Autismus-Therapie á la ABA eine „klassische Konditionierung“.
ABA – diese Abkürzung gilt manchen als Reizwort. ABA steht für „Applied Behavior Analysis“, auf Deutsch Angewandte Verhaltensanalyse. Das ist eine in den 1960er Jahren in den USA entwickelte Variante der Verhaltenstherapie.
Einige Betroffene wie die Bloggerin Marlies Hübner lehnen ABA-Therapien aber als „erzwungene Anpassung an die Norm“ ab. ABA setze sich über die Bedürfnisse des behinderten Menschen hinweg, heißt es in einem 2016 veröffentlichten Brandbrief, unter dem sechs Autoren stehen. Menschen mit Autismus würden gezwungen, Verhaltensweisen zu erlernen, die ihrer Natur widersprächen, zum Beispiel Blickkontakt zu suchen oder Berührungen zu ertragen. Von „Drill“, sogar von „Folter“ ist die Rede.
Nicht jede Krankenkasse übernimmt die Kosten
Die Vorsitzende des Verbands Autismus Deutschland, Maria Kaminski, mahnt zur Differenzierung. „Die Frage ist: Muss ich Verhaltenstherapie in unmenschlichen Drill ausarten lassen? Oder binde ich das ein in die liebevolle, aber konsequente Erziehung?“, sagt die Osnabrückerin. Ein großer Teil der Eltern habe damit gute Erfahrungen gemacht, ein kleiner Teil lehne es als Dressur ab. „Wichtig ist natürlich, dass man die Würde des Kindes wahrt.“
Ihr heute 41 Jahre alter Sohn Daniel habe „viele Stunden intensiver Einzeltherapie“ hinter sich. Als Kind sei er ein nicht sprechender, aggressiver Autist gewesen. Heute könne er seine Bedürfnisse ausdrücken, in eine Werkstatt gehen und mit Begleitung in die Disco.
Maria Kaminski hat den Selbsthilfeverband mitbegründet. Er unterstützt zum Beispiel Eltern juristisch, wenn die Ämter Therapiekosten ablehnen.
Auch Arons Mutter Katja Pleterski musste klagen, bevor das Landratsamt monatlich 1500 Euro für die ABA-Therapie übernahm. Ein Unding, findet Kaminski: Die Gesellschaft spare sich hohe Folgekosten, wenn sie früh in Therapie investiere, „statt lebenslang immense Heimkosten zu bezahlen“.
Wie also kann man autistischen Kindern und deren Familien am besten helfen? Das erforscht seit zehn Jahren das Autismustherapie- und Forschungszentrum am Frankfurter Universitätsklinikum, kurz ATFZ.
Ein Ort zum Wohlfühlen ist dieses Zentrum trotz aller Fachkompetenz nicht: Die Psychiatrie der Uni-Klinik platzt aus allen Nähten. Das Autismuszentrum muss sich mit Baucontainern begnügen. Familien aus einem Umkreis von mehr als 100 Kilometern kommen hierher.
Ein Urlaubsdorf für Menschen mit Autismus
Rund 70 Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 21 Jahren sind derzeit in Behandlung. „Wir haben eine lange Warteliste“, sagt Karoline Teufel, die klinische Leiterin. Eine Besonderheit in Frankfurt: das Elterntraining. Väter und Mütter erfahren hier, was Autismus ist und wie man mit den „herausfordernden Situationen“ umgeht.
Das ist bitter nötig. Im Alltag kämpfen die Familien an mindestens zwei Fronten: Mit den lautstarken Ausbrüchen des Kindes und den zufälligen Zeugen. „Das Schlimmste ist die Reaktion der Gesellschaft“, sagt Katja Pleterski. Im Schwimmbad warf sich Aron mal auf den Boden und schrie – bis ein Badegast die Eltern anbrüllte, er habe Eintritt bezahlt und wolle seine Ruhe. „Das macht Stress.“
Nach einem Zusammenbruch am Frankfurter Flughafen wurden Flugreisen aus dem Ferienprogramm gestrichen. Seither heißt Urlaub: Wir besuchen die Oma. Vielen Familien mit autistischen Kindern gehe es genauso, sagten sich die Eltern – und entwarfen die Idee eines „therapeutischen Feriendorfs“.
Arons Stiefvater Niels Schumann ist Bankkaufmann, Betriebswirt und managt internationale Großprojekte. „Autzeit“ haben die beiden ihren Plan genannt, darin stecken Autismus und Auszeit. „Wir wollen einen Ort schaffen, wo alle so sein dürfen, wie sie sind“, sagt er.
2016 haben die Gründer eine gemeinnützige gGmbH geschaffen. Was fehlt, ist Geld: 30 Millionen Euro, sagt Schumann. Eine Fundraising-Kampagne soll helfen. Maria Kaminski findet die Idee vor allem mutig: „Toll, wenn sich das jemand zutraut.“ Sie selbst fährt seit Jahren mit einer Reisegruppe von erwachsenen Autisten in Urlaub. Ihre Erfahrung: „Man kann in ein Sterne-Restaurant gehen oder an eine Pommesbude. Alles dazwischen ist schwierig.“
Für Aron war der Tag, an dem eine Journalistin mit Schreibblock und ein Fotograf mit Kamera hinter ihm herliefen, mehr als anstrengend. Beim Versuch einer Begrüßung morgens vor der Schule wandte er sich ab und drehte eine Runde auf dem Hof. Beim Abschied am Abend, nach vielen Stunden voll ungewohnter Kontakte, sitzt er entspannt im Wohnzimmersessel und schüttelt den Gästen die Hand.
Von Sandra Trauner (dpa)