Das Hinsehen lernen

Jenny Erpenbecks neuer Roman „Gehen, ging, gegangen“ erzählt die Geschichte eines Professors, der zufällig einer Gruppe von Flüchtlingen begegnet – und sich schließlich darauf einlässt, sie als Menschen kennenzulernen.

© Knaus

© Knaus

Auf dem Berliner Alexanderplatz protestieren zehn Männer. Ihre Hautfarbe ist schwarz, es sind Flüchtlinge. Was sie wollen? Auf ihrem Plakat steht: „We become visible.“ Wir werden sichtbar. Die anderen Menschen aber laufen weiter an ihnen vorbei.

Auch der ehemalige Universitätsprofessor Richard sieht die Männer nicht. Erst abends, als er gemütlich auf seiner Couch sitzt und Nachrichten schaut, nimmt er den Protest wahr. Später im Verlauf der Geschichte wird er begreifen, was es mit dem Aufstand auf sich hat und welches Ziel die Männer verfolgen.

„Gehen, ging, gegangen“ heißt Jenny Erpenbecks neuer Roman. Es ist ein Buch über das Wegschauen und das Hinsehen. Es erzählt von Einsamkeit, von Zeit, die nicht vergeht, vom Nichtstunkönnen – all das vor dem Hintergrund des Verlustes der eigenen Heimat. Es ist ein trauriges Buch, aber auch ein hoffnungsvolles. Denn Erpenbeck erzählt auch von menschlichen Begegnungen, von Hilfsbereitschaft, und sie zeigt, wie aus Fremden Freunde werden – wenn sie es wollen und wenn man sie lässt.

Sichtbar werden

Die Autorin nähert sich dem Thema aus der Perspektive des Altphilologen Richard. Er ist seit Kurzem im Ruhestand, seine Frau ist wenige Jahre zuvor gestorben. Was ihn zu Hause erwartet, sind Regale voller Bücher und ein Klavier, auf dem niemand mehr spielt, und Tage voller Zeit.

„We become visible“ liest Richard abends in den Nachrichten und fragt sich: „Wie konnte ich die Menschen übersehen? Und wer sind sie wirklich?“ Um das herauszufinden, macht er sich auf den Weg und besucht die Flüchtlinge in dem ehemaligen Altenheim, in dem sie nach dem Protest untergebracht wurden. Dort, am Rande Berlins, lernt er Zani und Osarobo, Khalil und Raschid kennen und auch ihre Geschichten.

Diese Fiktion ist real

Anderthalb Jahre lang hat Erpenbeck für ihr Buch recherchiert. 2014 ist sie das erste Mal zu dem Protestcamp der Flüchtlinge am Berliner Oranienplatz gegangen. Sie hat mit den Menschen vor Ort gesprochen, hat ihren Alltag kennengelernt und sie in ihren Unterkünften besucht.

In den Biografien der jungen Männer spiegelt die Fiktion des Romans also die Realität wider. Da ist Khalil, der nicht weiß, wo seine Eltern sind, und ob sie überhaupt noch leben. Da ist Zani, der alle Zeitungsartikel über das Massaker in seiner Heimatstadt sammelt. Da ist Raschid, der nach Deutschland floh, um seine Familie zu ernähren, und dessen Frau jetzt von einem anderen Mann schwanger ist. Und da ist der lange Ithemba, der sich, als er abgeschoben werden soll, vor den Beamten die Pulsadern aufschneidet.

bloggerfuerfluechtlinge_banner_0510

Blogger für Flüchtlinge
Die Spendenaktion für Flüchtlinge ist eine Initiative von Bloggern. Also von ganz normalen Menschen, die sich entschlossen haben, nicht länger wegzusehen, sondern aktiv zu werden. Wie auch Sie helfen können? Mit Sach- und Geldspenden, aber auch, indem Sie die Botschaft teilen, beispielsweise auf Twitter mit dem Hashtag #bloggerfuerfluechtlinge.

Worte, die unter die Haut gehen

Oft ist man beim Lesen den Tränen nahe. Mehr noch als Mitleiden entsteht ein Mitfühlen. Auch weil Erpenbeck eine Sprachkünstlerin ist. Jedes Wort sitzt. „Wie begräbt man einen Menschen in der Wüste?“ Einzelne Sätze wiederholt sie einmal, zweimal, dreimal – gerne auch viermal. Denn: Auf manche Fragen gibt es einfach keine Antwort. „Life is crazy“, wie Osarobo sagt. „Das Leben ist verrückt.“

Wegschauen funktioniert nicht. Für Richard genauso wenig wie für den Leser. Mit jeder Frage, die Richard stellt, mit jedem Hinschauen und Hinhören bröckelt die Mauer, die ihn von den Männern trennt. Am Ende sitzen alle gemeinsam in Richards Garten und aus dem anfänglichen Frage-Antwort-Spiel ist längst ein Dialog geworden.

Ende gut, alles gut? Nicht wirklich. Erpenbecks Roman hat kein klassisches Happy End. Viele der Männer halten ihre Abschiebungspapiere bereits in Händen.

“Gehen, ging, gegangen” ist im Knaus Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.