Sie waren außerordentlich erfolgreich und attraktiv, lebten ein privilegiertes Leben. Doch sie waren tief verzweifelt. Kate Spade und Anthony Bourdain sind zwei von vielen. In den USA ist Suizid ein seit Jahren wachsendes Problem.
Erst Kate Spade, dann Anthony Bourdain: Der Tod der vielgeliebten Designerin und des scheinbar so unverwüstlichen Kochs und TV-Stars haben die USA schockiert. Aber die Suizide haben viele Amerikaner auch endlich zum Reden gebracht über ein Thema, das immer noch tabu ist. Dabei brennt es unter den Nägeln, denn die Suizidraten steigen stark und seit Jahren.
Fast 45.000 Amerikaner haben sich 2016 das Leben genommen – das sind 25 Prozent mehr als 1999 und mehr als doppelt so viele wie 2016 ermordet wurden: Just in der Woche von Spades und Bourdains Tod legt die US-Gesundheitsbehörde CDC neue Zahlen vor. „Verstörend“ nennt Anne Schuchat, stellvertretende CDC-Geschäftsführerin, die Daten. „Die weitgestreute Natur dieses Anstiegs, in allen Staaten außer einem, legt wirklich nahe, dass das ein nationales Problem ist, das so gut wie alle Orte betrifft.“
Ist die Finanzkrise schuld?
In der Tat sind alle Altersgruppen, Geschlechter und Ethnien betroffen – wenn auch unterschiedlich stark. Generell gilt: Mehr als vier Fünftel der Suizidopfer sind Weiße und etwa drei Viertel Männer.
Besonders heftig ist der Trend in den Flächenstaaten des mittleren Westens: North Dakota verzeichnet zwischen 1999 und 2016 einen Anstieg von 57 Prozent, und in Montana ist es schlimmsten. Hier liegt die Selbsttötungsquote bei 29,2 pro 100.000 Einwohner. 13,4 sind es im US-Durchschnitt. Einzig in Nevada ist die Rate leicht gesunken – allerdings trotzdem auf hohem Niveau. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Quote laut den jüngsten verfügbaren Zahlen im Jahr 2015 bei 12,3 Prozent.
Unterm Strich sieht es in Staaten mit strikteren Waffengesetzen etwas besser aus. Denn vor allem weiße Männer greifen häufig zur Waffe, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen.
Trotzdem bleibt die Frage: Woher kommt dieser drastische Anstieg? Gesundheitsexperten sehen ebenso wie Ökonomen und Soziologen einen Grund in der Finanzkrise, die das Land 2008 mit voller Wucht traf.
„Forschungen haben über viele Jahre und soziale wie gesundheitspolitische Felder hinweg gezeigt, dass es einen starken Bezug zwischen ökonomischem Niedergang und dem Anstieg von Selbsttötungen gibt“, erläutert die Soziologin Sarah Burgard (University of Michigan) in der „Washington Post“.
Auch die Opioidkrise spielt hinein: Hier sind Suizide und unbeabsichtigte Überdosierungen nicht leicht auseinanderzurechnen. Die CDC geht aber davon aus, dass sich Selbsttötungen durch die superstarken und abhängig machenden Schmerzmittel von 1999 bis 2014 fast verdoppelt haben.
Wer psychische Probleme hat, an Depressionen oder Angsterkrankungen leidet, hat es zudem oft schwer, wirksame medizinische und therapeutische Hilfe zu bekommen. Dazu braucht es Geld, eine Krankenversicherung und vor allem mehr als nur einen Besuch in der Krankenhausnotaufnahme im Extremfall.
„Der Anstieg der Suizide hält der amerikanischen Gesellschaft einen dunklen Spiegel vor“, schreibt die „New York Times“. Darin zu sehen: ethnische Spannungen, eine zersplitterte Kultur, ein fadenscheiniges Gesundheitssystem und die Verzweiflung vieler Einzelner, die hinter Wogen lächelnder Social Media Fotos und putziger Emoticons verschwinden.
Überlebende müssen reden
Menschen in schweren Krisen, aber auch Familien von denjenigen, die sich das Leben nahmen, leiden an diesem Schweigen. Dabei könnte mehr Offenheit auch Gefährdeten helfen, sagt John Draper vom Präventionsnetzwerk National Suicide Prevention Lifeline. „Wenn Menschen offener darüber reden, wie sie Selbstmordgedanken überwunden haben (…), gibt es deutlich Hinweise, dass das einen positiven Effekt hat auf Leute, die sich gerade in einer suizidalen Krise befinden.“
Zumindest einige der Betroffenen haben sich jetzt hervorgewagt und ihre Geschichten geteilt: In „USA Today“ berichtet die Kolumnistin Kirsten Powers von ihrer schweren Depression nach dem Tod und der Krankheit naher Menschen. Sie glaubt, dass auch eine Kultur, die Impulse des Immer-mehr-haben-Wollens anstelle echter Bindungen fördert, ein Grund für die wachsende Verzweiflung ist. „Ich wollte nur noch sterben.“ Aber sie habe letztlich überlebt – ebenso wie Oprah Winfrey oder Halle Berry– und sei heute dankbar dafür.
Auch auf Twitter meldeten sich Betroffene zu Wort. „Es ist sechs Jahre her, dass ich barfuß auf dem Geländer einer Brücke stand, im Regen“, beginnt Josh Raby einen langen Twitter-Thread, der von über 90.000 Menschen verfolgt wurde. Ausgerechnet ein Nachbar in einem „Toy Story“-Kostüm habe ihn gerettet – einfach, indem er da war.
Die Filmkritikerin Sheila O’Malley twittert, wie Freunde ihr in der tiefsten Krise Hilfe förmlich aufdrängten. „Dieser Plan hätte sehr gut nach hinten losgehen können.“ Aber Freunde sollten dieses Risiko eingehen und sich einmischen.
Von Andrea Barthélémy (dpa)