Jeden Tag nehmen sich etwa 30 Menschen in Deutschland das Leben. Viele der Suizide sind Experten zufolge durch Prävention vermeidbar. Dafür braucht es mehr Bewusstsein und staatliche Unterstützung.
Studentin, Mitte 20, mit Auslandserfahrung und Erfolg an der Uni, pendelt plötzlich zwischen Ängsten und Verzweiflung, das Studium nicht zu schaffen und auch im Job keine Perspektive zu haben. Sie sei der festen Überzeugung, dass „die logische Konsequenz eine Selbsttötung ist“, schreibt sie ihrer Therapeutin. Eine ambulante Therapie und Medikamente verbessern ihren Zustand schnell. Die junge Frau kann sich sogar ihren großen Traum von einem Auslandssemester erfüllen. „Seither habe ich keinen Lebensüberdruss mehr …“
Der Fall ist für Fachleute ein Beleg, dass Vorbeugung sich auszahlt. „Suizide können sehr wohl verhindert werden“, sagt Ulrich Hegerl, Chef der Psychiatrie an der Uniklinik Leipzig, zum Welttag der Suizidprävention unter dem Motto „Kontakt herstellen. Kommunizieren. Kümmern“ am 10. September. Damit machen die Internationale Gesellschaft für Suizidprävention und die Weltgesundheitsorganisation seit 2003 öffentlich auf das Phänomen aufmerksam.
Suizid(versuche) in Zahlen
Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jährlich 800.000 Menschen durch Suizid – einer alle 40 Sekunden. Die Zahl der Versuche liegt 25 Mal höher. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) nehmen sich bundesweit pro Jahr rund 10 000 Menschen das Leben, zu etwa 70 Prozent Männer. Somit sterben genauso viele Menschen auf diese Weise wie durch Verkehrsunfälle, Aids, Drogen und Gewalttaten zusammen.
Depressionen oder andere psychische Erkrankungen sind laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe die Hauptursachen. Der Anteil psychiatrischer Erkrankungen an Suiziden ist nach DGS-Angaben aber methodisch nur sehr schwierig zu erheben.
Der DGS zufolge steigt die Suizidrate mit dem Lebensalter. Nur etwa 150 bis 250 Menschen pro Jahr, die sich das Leben nehmen, sind jünger als 18 Jahre. Die Zahl der Suizidversuche in Deutschland wird auf mindestens 100.000 pro Jahr geschätzt, betroffen sind vor allem Jugendliche und junge Erwachsene.
Nach einem Rückgang seit den 1980er Jahren steigen die Suizidraten der DGS zufolge seit 2007/2008 wieder an. Zu den Risikogruppen zählen ältere Männer, Homosexuelle und junge Frauen mit Migrationshintergrund. Auch traumatische Ereignisse wie der Verlust wichtiger Bezugspersonen, schwere Erkrankungen und veränderte Lebensumstände wie Jobverlust können Suizidgedanken auslösen.
Bei Älteren werden Depressionen oft fehlinterpretiert
In Deutschland gibt es laut Statistik rund 10.000 Suizide pro Jahr. Die häufigste Ursache ist nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe die Depression, aber auch andere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Sucht spielen eine Rolle.
„Dennoch ist Suizid nach wie vor ein Tabuthema“, erklärt Hegerl. Vor 30 Jahren aber lag die Zahl fast doppelt so hoch. Warum, sei nicht ganz klar. „Das Wahrscheinlichste ist, dass sich mehr Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen helfen lassen.“ Viele bekommen die richtige Diagnose und werden behandelt, weil Ärzte besser geschult sind im Erkennen der Erkrankung.
Defizite sieht Hegerl dennoch. „Noch immer nehmen sich täglich etwa 30 Leute das Leben, eine schreckliche Zahl.“ Dramatisch sei die Zunahme der Suizidrate im Alter bei Männern, vor allem bei über 60- und 70-Jährigen. „Vergiftungen, die von jungen Menschen noch überlebt werden, können bei Älteren tödlich sein.“ Und Depressionen werden oft fehlinterpretiert – als verständliche Reaktion auf körperliche Erkrankungen oder andere Bitternisse des Alters.
„Ein groteskes Missverhältnis“ bei der Versorgung depressiv Erkrankter
In Gemeinden von bundesweit bisher 78 Regionen verankerte Bündnisse gegen Depression helfen, die Versorgung depressiv Erkrankter zu verbessern und suizidalen Handlungen vorzubeugen. „Hausärzte, Lehrer, Pfarrer, Apotheker oder Altenpfleger werden geschult, Depression besser zu erkennen“, sagt Hegerl, der auch Vorstandschef der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ist. Auf Plakaten und in Kinospots wird aufgeklärt, dass das eine behandelbare Erkrankung ist – mit Erfolg. „In einigen der Regionen gibt es weniger Suizide und Suizidversuche.“ Die Bündnisse sind ein europaweites Exportmodell.
Hegerl und seine Dresdner Kollegin Ute Lewitzka von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) sehen angesichts des bisher nur ehrenamtlich und von Sponsoren getragenen Engagements die öffentliche Hand in der Pflicht. Sie verweisen auf skandinavische Länder, wo die Förderung politisch etabliert ist. Angesicht dessen, was etwa in die Verkehrssicherheit investiert werde, gebe es in Deutschland „ein groteskes Missverhältnis“, so Hegerl. Menschen, die sich das Leben nehmen, haben meist eine behandelbare psychische Erkrankung, sind nach therapierter Depression wieder leistungs- und genussfähig „und denken an alles andere, als sich das Leben zu nehmen“, argumentiert Hegerl.
„Depression kann jeden treffen“, so Hegerl. Doch weniger als zehn Prozent der Betroffenen werden den Angaben zufolge optimal behandelt. In vielen Fällen könne mit Therapien Leid verhindert werden. Dafür braucht es ein aufmerksames Umfeld. „Der Depressive ist hoffnungslos, fühlt sich als Versager und nicht krank, hat Schuldgefühle, ihm fehlt die Energie, sich selbst um Hilfe zu kümmern“, erklärt Lewitzka.
Fachleute müssen besser geschult werden
Sie sieht auch ein Defizit bei der Forschungsförderung. „Erkennen und Behandeln psychischer Erkrankungen ist die Basis des Erfolgs“, mahnt Lewitzka, die an der Dresdner Uniklinik die Wirkung von Lithium untersucht. „Lithium kann Menschen davor schützen, sich das Leben zu nehmen.“ Studien belegten, dass eine Behandlung bei Patienten mit einer solchen Erkrankung etwa 250 Suizide pro Jahr verhindern könnte.
Für den Notfall wäre aus Sicht der Experten ein rund um die Uhr erreichbarer Krisendienst in jeder größeren Stadt sinnvoll, der die Brücke zwischen sehr anonymen Angeboten wie der Telefonseelsorge und dem Krankenhaus schlägt. Zwar gibt es den einen bestimmten Gedanken nicht, der vom letzten Schritt abhält. „Wir wissen aber, dass es vor allem die Hoffnung ist, die Menschen weiter am Leben hält“, sagt Lewitzka. Und es gehe um Hilfe und Beistand.
„Wenn die Leute nach einem Versuch in Behandlung kommen, ist es eigentlich zu spät“, meint Kinder- und Jugendpsychologe Hellmuth Braun-Scharm aus Nürnberg. Prävention müsse davor ansetzen. Es gelte, Fachleute und auch Lehrer besser zu schulen und mehr altersgerechte Beratungsmöglichkeiten wie die Online-Dienste U25 oder Youth Life Line zu schaffen. Dort helfen Gleichaltrige Bedürftigen anonym. „So lange darüber geredet wird, passiert in der Regel nichts“, sagt der Mediziner. „Die goldene Regel heißt immer Ansprache!“
Von Simona Block (dpa)