Die Wartezeiten für Psychotherapien sind lang, die Wege zu einem geeigneten Therapeuten oft weit. Online-Therapien könnten Abhilfe schaffen. Doch lässt sich eine psychische Störung am Computermonitor heilen?
Psychotherapie und Internet – das scheint auf den ersten Blick unvereinbar. Denn sind nicht die persönliche Beziehung, der intensive Kontakt zwischen Patienten und Therapeuten, die Möglichkeit unmittelbarer Reaktion entscheidend für den Erfolg einer Therapie? „Online-Programme bieten den Vorteil, dass sie überall verfügbar sind, dass Teilnehmer dann an ihren Problemen arbeiten können, wenn sie dazu gerade Zeit haben, und dass die Schwelle zur Teilnahme für viele Personen geringer ist als bei klassischen Therapie- und Coaching-Angeboten“, sagt Matthias Berking, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Erlangen-Nürnberg.
In mehreren von ihm geleiteten Forschungsprojekten haben Wissenschaftler verschiedene Online-Trainings- und Therapieprogramme entwickelt, die unter anderem bei Depression oder Angststörungen eingesetzt werden können oder die Teilnehmer zu einem besseren Stressmanagement im Job anleiten sollen.
Einige psychische Störungen können Menschen selbstständig überwinden
„Online-Interventionen können bei einer Vielzahl von psychischen Problemen oder Störungen eine wichtige Hilfe darstellen“, sagt Berking – und stellt zugleich klar, dass es sich nicht immer unbedingt gleich um eine Therapie handeln muss: Selbsthilfeprogramme gegen Stress zum Beispiel könnten verhindern, dass aus einer unspezifischen Belastung eine gravierendere Störung wird. „Und selbst wenn sich eine manifeste psychische Störung entwickelt hat, können viele Personen diese selbstständig überwinden – wenn sie verstanden haben, was die Störung aufrechterhält und wie man auf eine solche Störung sinnvollerweise reagiert.“ Solche Informationen und Anleitungen ließen sich über das Medium des Internets flächendeckend und niedrigschwellig verbreiten. Wenn das nicht ausreiche, „kann man die Intensität des Behandlungsangebotes weiter steigern.“
Ob Online-Programme sinnvoll seien, lasse sich angesichts der großen Bandbreite der Angebote nicht mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ beantworten, sagt Barbara Lubisch, Diplom-Psychologin und Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung. Einsatzfelder sieht sie, wenn es darum geht, die Fähigkeit zur Selbsthilfe zu stärken, oder wenn es sonst keine andere Möglichkeit der Therapie gibt. Sie betrachtet die Angebote eher als Ergänzung, reine Online-Therapien sieht sie skeptisch: „Psychotherapie beinhaltet eine differenzierte Diagnostik und Behandlungsplanung, die fachgerecht nur im persönlichen Kontakt erstellt werden kann.“
Bei Trauer und Scham können Online-Angebote helfen
Therapie zu denjenigen zu bringen, die sonst keinen Zugang dazu haben – darin sieht Professor Anette Kersting, Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Leipzig den großen Vorteil der Online-Programme. Kerstings aktuelles Projekt ist ein Therapieangebot für Menschen, die einen Angehörigen oder engen Freund durch einen Suizid verloren haben. Viele von ihnen müssen nicht nur mit der Trauer um den geliebten Menschen umgehen, sondern leiden zusätzlich unter Schuld- und Schamgefühlen: „Für die Hinterbliebenen ist das eine ganz schwierige Situation, weil das Thema Suizid nach wie vor auch ein Stigma bedeutet.“ Viele Betroffene ziehen sich zurück, obwohl sie eigentlich Hilfe bräuchten.
Hier setzt die Online-Therapie an, denn sie kann von zu Hause aus und anonym absolviert werden. Die Eingangsdiagnostik findet mit Hilfe eines Fragebogens statt. „Wir können an den Antworten erkennen, ob die Online-Therapie überhaupt geeignet ist, und informieren, wenn andere Therapieformen sinnvoll wären“, erläutert Kersting. Fünf Wochen lang erledigen die Teilnehmer Schreibaufgaben und bekommen auf einer geschützten Kommunikationsplattform individuelle Antworten der Therapeuten. Durch diese angeleitete Reflexion sollen sie ihre Trauerreaktionen besser bewältigen lernen, die wissenschaftliche Auswertung anderer schon durchgeführter Projekte zeige, „dass die Mehrheit der Teilnehmer den Verlust durch die Therapie besser verarbeitet hat“, sagt Kersting.
Der persönliche Kontakt scheint nicht so wichtig, wie viele glauben
Je intensiver die persönliche Betreuung innerhalb des Online-Angebots ist, umso seltener werden die Online-Therapien und -Coachings abgebrochen, beobachtet Berking. Komplett automatisierte Programme seien deshalb weniger empfehlenswert. Ob der Therapeut jedoch im selben Raum sitzt oder ob die Kommunikation via Online-Plattform stattfindet, sei offenbar längst nicht so wichtig, wie man früher angenommen habe, sagt Anette Kersting: „Wir beobachten, dass die Beziehung zum Therapeuten bei einer Online-Therapie genauso intensiv wahrgenommen wird wie bei einer Face-to-Face-Therapie.“
Der Markt für die Online-Angebote ist groß und unübersichtlich. Nicht alles, was das Etikett „Therapie“ trägt, ist auch tatsächlich eine, die Grenzen zu Lebenshilfe und Coaching können fließend sein. „Seriöse Programme wurden durch Fachleute wie Psychotherapeuten oder Ärzte entwickelt“, sagt Lubisch. „In der Kursbeschreibung sollten präzise Angaben zur Entwicklung, zur Evaluation, zum Vertrieb und insbesondere zum Datenschutz zu finden sein.“ Angeboten werden Online-Therapien bislang vor allem im Rahmen von Forschungsprojekten, eine Kassenleistung zur Behandlung psychischer Störungen sind sie nicht. Einige Kassen bieten sie aber im Rahmen von Präventionsprogrammen ihren Versicherten an.
Von Eva Dignös (dpa)