Ein Leben zwischen Extremen

© picture alliance/APA/picturedesk.com

© picture alliance/APA/picturedesk.com

Die Gefühlswelt von Menschen mit bipolaren Störungen gleicht einer Achterbahnfahrt. Ausuferndes Hochgefühl und zerstörerische Tiefs, die an den Rand des Aushaltbaren führen, nicht nur für die Betroffenen. Oft fallen die Menschen aber auch durch besondere Fähigkeiten auf.

Es ist ein interessanter Lebenslauf, der von Thomas Stein*. Der Hamburger hat schon vieles angepackt, an vielen unterschiedlichen Orten der Welt gelebt und gearbeitet. Er hat Unternehmen beraten, Nichtregierungsorganisationen betreut und Internet-Startups gegründet. Aber auch harte Brüche und lange Klinikaufenthalte gehören zum Leben des heute Fünfzigjährigen.

Als er 18 Jahre alt ist, wirft es ihn zum ersten Mal aus der Bahn. Es ist eine sehr stressige Lebensphase. Thomas Stein macht sein schriftliches Abitur, nebenbei noch die Fahrschule. Er fühlt sich zunächst unter Druck, durch die Anforderungen belastet, doch dann schlägt die Gefühlslage um. Er ist wie beflügelt von grenzenlosem Tatendrang und Euphorie. Freunde überredet er nach dem schriftlichen Abitur, mit ihm nach Frankreich zu kommen und ein Haus zu kaufen. Den nicht vorhandenen finanziellen Background blendet er dabei völlig aus. Er ist inmitten seiner ersten Manie.

Zwischen Euphorie und Depression

“In der Manie kann es passieren, dass Patienten im Job eine ganze Firma ins Wackeln bringen, indem Sie zum Beispiel als Banker an der Börse durch waghalsige Geschäfte viel Geld verspekulieren”, erklärt Professor Martin Schäfer, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Suchtmedizin in Essen und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS).

Der Körper schüttet zu viele euphorisch machende Botenstoffe wie Dopamin aus. “Man fühlt sich wie unter Drogen: euphorisch, enthemmt, gut drauf, voller Energie, Schlaf scheint überflüssig”, sagt Schäfer. Im grenzenlosen Überschwang der Gefühle trauen sich Betroffene oft alles zu, blenden Gefahren aus, handeln übertrieben und stürzen sich in riskante Geschäfte. Auch Wahrnehmungsverschiebungen können bei extremer Ausprägung einer Manie auftreten.

Dieselben Menschen kennen aber auch die Kehrseite – die oft langen Phasen der Depression, geprägt von Ängsten, Schuldgefühlen, Suizidgedanken, Entscheidungsunfähigkeit und völliger Energie- und Antriebslosigkeit. Die extremen Gefühlsschwankungen sind typisch für eine bipolare Störung, unter der auch Thomas Stein leidet.

Die Ausprägungen einer bipolaren Störung sind vielschichtig

Neben der zerstörerischen Komponente gibt es auch die andere Seite der bipolaren Störung. “Die beginnende Manie, die Hypomanie, kann bedeuten, dass es einem gut geht, man enorm leistungsfähig ist, andere mitreißen kann”, sagt der Leiter der Ambulanz für Psychosen und Bipolare Störungen, Professor Thomas Bock. Manche Künstler haben in solchen Phasen Großes geschaffen: der Maler Vincent van Gogh, der Komponist Robert Schumann.

Ein bis zwei Prozent der Menschen in Deutschland sind von einer bipolaren Störung betroffen. Die Ursachen sind noch weitgehend ungeklärt. Wenn in der Familie bereits Depressionen oder bipolare Erkrankungen aufgetreten sind, ist das Risiko höher.

“Es gibt bis in die höchsten Etagen der Wirtschaft hinein Menschen mit bipolaren Störungen”, sagt Bock. Die Störung bedeute nicht unbedingt, dass man nicht arbeiten kann. Die Gefahr des Umschlagens von einem Extrem ins andere, des Absturzes in die zerstörerische Manie oder Depression, bleibt. Reihenfolge, Schwere und Häufigkeit der manischen und depressiven Phasen können unterschiedlich sein.

Bis zur richtigen Diagnose vergehen oft Jahre

Die Vielschichtigkeit macht die Diagnose schwer. Gerade der Aspekt, dass eine bipolare Störung häufig mit depressiven Episoden beginnt. “Von der ersten depressiven Episode bis zur Diagnose der bipolaren Störungen vergehen nicht selten gut zehn Jahre”, erklärt Schäfer.

Viele Betroffene erhalten daher über lange Jahre keine adäquate Behandlung. Der Leidensdruck, den die ausufernden Gefühlszustände hervorrufen können, ist enorm – gerade wenn die bipolare Störung unerkannt und unbehandelt bleibt. “Die Suizidrate bei Menschen mit bipolaren Störungen ist 10 bis 15 Mal höher als in der Normalbevölkerung”, sagt Schäfer. Ohne Medikamente verläuft die manisch depressive Erkrankung wesentlich schwerer. Stress und Belastung, vor allem verbunden mit Schlafmangel, stellen ein besonderes Risiko dar. Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle sind sehr wichtig, um sich vor dem Abgleiten in Extremphasen zu schützen.

“Meine Erfahrung ist, dass Menschen mit bipolarer Störung eher überangepasste Menschen sind, die es anderen rechtmachen wollen, die nicht gelernt haben, sich genügend abzugrenzen. Und dann werden sie erschlagen von allen Ansprüchen, den fremden und den eigenen”, sagt Professor Bock. Mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, sei entscheidend bei der Erkrankung und dies zu vermitteln, eine wichtige Aufgabe der Psychotherapie. Gesprächs- und Verhaltenstherapien können Betroffenen helfen, sich besser kennenzulernen und auch frühe Warnsignale zu erkennen. Es gibt wenige Störungen, bei denen die Information so wichtig ist, bei denen man so viel erreichen kann, indem man sich schult und schulen lässt, ergänzt Professor Schäfer.

Das Leben ist mehr als die Krankheit

“Man braucht mit dieser Krankheit enorm viel Disziplin”, sagt Thomas Stein. Doch es lohne sich zu kämpfen, denn das Leben sei mehr als die Krankheit. “Ich möchte anderen Menschen ebenso wie mir selbst zeigen, dass sich das ‘Abenteuer Dasein’ lohnt.” Thomas Stein hat in dieser Hinsicht viel geschafft. Die Arbeit ist ein für ihn sehr wichtiger Lebensaspekt. Privat hat die Krankheit vieles kaputt gemacht.

* Der Name ist von der Redaktion geändert.

Von Claudia Urban (dpa)