Ich habe keine Lust, ich fühle mich so leer – schätzungsweise vier bis fünf Millionen Menschen in Deutschland erleben depressive Phasen. Doch immer noch wird die Volkskrankheit unterschätzt.
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Bis 2020 werden sie laut Weltgesundheitsorganisation weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein, vor Diabetes mellitus (Zuckererkrankung) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dabei gibt es immer noch erhebliche Versorgungsdefizite, so das Robert Koch Institut (RKI).
Wie viele Menschen mit Depressionen gibt es?
Je nach Statistik haben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Menschen in Deutschland eine Depression. Nach Zahlen des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gab es 2015 insgesamt 1,12 Millionen stationäre Fälle von GKV-Patienten, die die Diagnose Depression hatten. Der weitaus größte Teil davon wurde jedoch wegen anderer Erkrankungen stationär behandelt. Depression war also häufig „nur“ Nebendiagnose. GKV-Patienten mit Hauptdiagnose Depression gab es insgesamt bei rund 316.500 stationären Fällen. Genaue Zahlen über ambulante Fälle gibt es nicht.
Wie kann man eine Depression erkennen?
Betroffene leiden unter einer gedrückten Stimmung, Traurigkeit oder inneren Leere, Antriebs-, Freud- und Interessenlosigkeit. Weitere Symptome können Konzentrationsmangel, schwindendes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sein. Dann auch Müdigkeit, Schlafstörungen sowie Appetitlosigkeit und entsprechend Gewichts- sowie Libidoverlust. Auch Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit kommen vor. Wenn eine bestimmte Anzahl dieser Grund- und Zusatzsymptome über 14 Tage anhält, spricht man je nach Anzahl und Schwere von einer leichten, mittelschweren oder schweren depressiven Episode. Bei schweren Depressionen kann es zu lebensmüden Gedanken kommen, die das Risiko einer Selbsttötung steigen lassen.
Was passiert da im Kopf?
Depressionen haben auch körperliche Grundlagen, denn im Gehirn findet da etwas statt oder besser nicht statt. Bisher geht man davon aus, dass in bestimmten Regionen des Gehirns die Botenstoffe zwischen den Nervenzellen reduziert sind, so dass nicht ausreichend oder falsche Signale übertragen werden. Einer dieser Botenstoffe ist Serotonin. Hier setzen auch die Medikamente an. Sie sollen die Konzentration dieser Botenstoffe an den sogenannten synaptischen Spalten erhöhen.
Ist Depression vererbbar?
Grundsätzlich ja. Heute gehe man von einem bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell für Depressionen aus, erläutert die Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses in Berlin-Weißensee, Iris Hauth. Bio meint dabei auch, dass man eine angeborene Empfänglichkeit haben kann. „Es gibt mehrere Gene, die mittlerweile in unserer Erbausstattung identifiziert worden sind, die eine mögliche Anfälligkeit für Depressionen mit sich bringen.“ Doch Depressionen müssten nicht zum Ausbruch kommen. „Da müssen psychische und soziale Faktoren hinzukommen.“ Etwa schlimmer akuter Stress nach einem Autounfall oder längerer Stress, etwa durch Arbeitslosigkeit.
Sind Depressionen heilbar?
Wird eine depressive Erkrankung frühzeitig erkannt, ist sie in den meisten Fällen gut behandelbar. Zwei Drittel der Episoden klingen laut Hauth gut ab, auch wenn eine erhöhte Sensibilität bleiben kann. 20 Prozent werden chronisch. In der Regel gilt: Leichte Depressionen werden mit psychotherapeutischen Maßnahmen behandelt, mittelschwere mit psychotherapeutischen und – wenn der Patient es will – mit Medikamenten. Bei schweren Depressionen kommt auf jeden Fall beides zum Einsatz.
Haben Kinder Depressionen und wie machen sie sich bemerkbar?
Ja, können sie haben. Um die Kriterien für eine Depression zu erfüllen, muss man sich ausdrücken und Gefühle äußern können. Ein Kleinkind, das keine Fürsorge bekommt, ist traurig und zeigt Zeichen einer frühkindlichen Depression. Aber eigentlich sieht man die klassischen Symptome einer Depression bei Kindern erst vom Schulalter an, erläutert der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Neuruppin, Michael Kölch. Bei Kindern und Jugendlichen gebe es einen hohen Anteil reaktiver Depressionen, etwa, wenn sich die Eltern trennen, wenn die Eltern umziehen oder wenn der geliebte Opa stirbt. Mobbing in der Schule ist ebenfalls ein Risikofaktor. Die kindliche Symptomatik sei nicht nur traurige und niedergeschlagene Stimmung, sondern drücke sich oft auch in einem gereizten Stimmungswechsel aus.
Wie zeigen sich Depressionen bei alten Menschen?
Im Alter setzen sich Menschen mit ihrem Leben auseinander. Traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit können hoch kommen. Verlusterlebnisse beim Tod des Partners oder der Partnerin können Auslöser sein. Zugleich muss man sich immer mehr mit körperlichen Gebrechen und Krankheiten abplagen. Typisch für das Alter sind auch viele Medikamente. Das alles kann psychische Krankheiten nach sich ziehen.
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz gibt zu bedenken, dass rund 1,2 Millionen der über 60-Jährigen in Deutschland an Depressionen leiden. Doch nur sechs Prozent davon würden behandelt. Depressionen seien Hauptursache für Suizide. In Deutschland geht man insgesamt von 100.000 Suizidversuchen im Jahr aus. Etwa 10.000 Menschen bringen sich tatsächlich um.
Gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau?
Ja. Statistisch haben etwa 10 bis 25 Prozent der Frauen im Leben depressive Phasen, während es bei den Männern 4 bis 10 Prozent sind. Oberarzt Stefan Rupprecht vom Alexianer St. Joseph-Krankenhaus sagt, zwar sei die Depressionsrate bei Männern niedriger als bei Frauen, dafür aber die Suizidrate höher. Männer geben aber ihre Depressionen oft nicht zu, sind eher gereizt beziehungsweise aggressiv oder sind in sich gekehrt.
Von Ruppert Mayr (dpa)
Experten: Psychische Erkrankung mehr erforschen
Die von der Volkskrankheit Depression betroffenen Patienten müssen besser versorgt werden. Dazu sind vor allem auch eine bessere Forschung nötig und mehr niedergelassene Psychotherapeuten.
Die Bundespsychotherapeutenkammer hat die Bundesregierung aufgefordert, mehr Psychotherapeuten zur Behandlung zuzulassen. Angesichts der monatelangen Wartezeiten für psychisch kranke Patienten auf eine Behandlung müsse ihre Zahl insbesondere in ländlichen Regionen gefördert und deutlich erhöht werden, sagte Kammer-Präsident Dietrich Munz.
Zudem forderte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) eine intensivere Forschung auf dem Gebiet psychischer Erkrankungen wie Depressionen. DGPPN-Präsidentin Iris Hauth sagte: „Es gibt in Deutschland bereits Deutsche Zentren für Krebsforschung oder Deutsche Zentren für Kreislaufforschung. Und wenn man davon ausgeht, dass psychische Krankheiten Volkskrankheiten sind, dann wäre es auch an der Zeit, ein Deutsches Zentrum zur Erforschung von psychischen Erkrankungen zu haben.“
Kaum Fortschritte in der Erforschung von Anti-Depressiva
Munz sagte, der Berufsstand und die Patienten litten heute noch unter den Fehlern, die nach der Wiedervereinigung bei der Planung des bundesweiten Bedarfs an Psychotherapeuten und psychotherapeutisch tätigen Ärzten gemacht worden seien. Damals sei die Bedarfsplanung für alle Bundesländer angelegt worden, „obwohl in den neuen Bundesländern der Bereich Psychotherapie noch sehr, sehr wenig ausgebaut war.“
In extremen Situationen müssen psychisch kranke Menschen etwa mit Depressionen bis zu fünf, sechs Monate warten, um einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten zu bekommen. Für einen Menschen, dessen Krankheit ihn antriebs- und motivationslos macht, ist das ein immenses Hindernis, sich in Behandlung zu begeben, erläuterte Munz und fügte hinzu, ungeachtet der Volkskrankheit Depression führten Psychotherapeuten und Psychiater in der Ärzteschaft immer noch „ein randständiges Dasein“ mit entsprechend geringer Vergütung.
Hauth beklagte, dass es – unabhängig von der Pharma-Industrie – keine staatlich geförderte Medikamentenforschung auch auf dem Gebiet der Depressionen gebe. „Wo die Industrie nicht mehr forschen will, müsste eigentlich staatliche Forschung greifen.“ Im Grunde gibt es seit Jahren keine wesentlichen Innovationen auf dem Gebiet der Anti-Depressiva. Positive Veränderungen hätten neue Präparate vor allem bei den Nebenwirkungen gebracht. „Wenn man wirklich ernsthaft weiterkommen will, dann sollten wir eine Strukturförderung haben und Netze, die auch längerfristig forschen.“
Starke regionale Unterschiede in der Versorgung
Nach Worten der DGPPN-Präsidentin ist bei der Patientenversorgung im ambulanten Bereich ein Stadt-Land-Gefälle zu beobachten. „Großstädte wie Berlin sind gut versorgt, während die neuen Bundesländer und die Flächenländer zu wenig Fachärzte für Psychiatrie und Psychosomatik haben“, sagte sie.
Der Bedarfsplan für die niedergelassenen Fachärzte und psychologischen Therapeuten müsse überarbeitet werden. Zudem seien Anreize nötig, damit die Fachleute auch in unterversorgte Regionen gehen. Generell würden niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie, also die Vertreter der sprechenden Medizin, völlig unzureichend honoriert, machte auch Hauth deutlich.
Potenzial sieht sie auch in der Telemedizin. Lange Wartezeiten könnten durch internetbasierte Interventionen überbrückt werden. Zudem sieht sie hier Möglichkeiten, die Sektor übergreifende Zusammenarbeit zu verbessern, etwa durch intensiveren Wissensaustausch zwischen Haus- und Fachärzten.
Quelle: dpa