Ein großer Teil der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge ist traumatisiert. Die Plätze für Therapien reichen bei weitem nicht aus. Warum nicht Flüchtlinge zu Therapeuten machen, fragt ein Forscher.
Unbehandelte psychische Störungen bei Flüchtlingen aus Bürgerkriegsregionen drohen aus Sicht eines Forschers eines der größten Integrationshindernisse in Deutschland zu werden. „Mit einer Traumafolgestörung hat man mehr Schwierigkeiten, eine neue Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu machen, einer Arbeit nachzugehen”, sagte der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Frank Neuner (Universität Bielefeld) im Vorfeld einer Verhaltenstherapie-Konferenz in Berlin. Auf der von Mittwoch bis Sonntag dauernden Veranstaltung wollte er über die Behandlung von Menschen aus „den dunkelsten Orten der Welt” sprechen.
Das Ausmaß der psychischen Belastungen bei Flüchtlingen und die Bedeutung für das Gesundheitssystem werde bisher weder gesehen noch ernst genommen, sagte Neuner. Er verwies auf Schätzungen, wonach 20 bis 40 Prozent der Erwachsenen und 20 bis 30 Prozent der Kinder unter den Flüchtlingen von sogenannten Traumafolgestörungen betroffen sind. Diese können etwa durch selbst erlebte oder beobachtete Gewalt, Kriegshandlungen, Vergewaltigung oder Misshandlungen ausgelöst werden. Bezogen auf die Zahl der Flüchtlinge, die 2015 in Deutschland ankamen, wären das „nach konservativer Schätzung 200 000 Behandlungsbedürftige”, so Neuner.
Es fehlt an Strukturen und Kompetenzen zur Therapie von Traumafolgestörungen
Mit den bestehenden Strukturen sei Deutschland dieser Aufgabe nicht gewachsen: An den spezialisierten Zentren für Folteropfer und Kriegsflüchtlinge bundesweit gebe es lediglich 4000 Plätze. Niedergelassenen Psychotherapeuten fehle es neben der Kompetenz für diese Klientel auch an Interesse, da sie ohnehin ausgelastet seien und die Sprachbarriere scheuten. Auch die für die Therapie nötigen Dolmetscher würden ohne größeren bürokratischen Aufwand nicht bezahlt, sagte Neuner.
Nötig wäre aus Sicht des Professors ein niedrigschwelliges Angebot: „Mehrere hochkarätige Studien aus Deutschland und den USA haben gezeigt, dass auch qualifizierte Laien eine Psychotherapie anbieten können”, sagte Neuner. Denkbar sei es, für diese Arbeit bereits in Deutschland lebende Flüchtlinge oder Migranten zu gewinnen. Der Erfolg solcher Kurzzeit-Psychotherapien habe sich bisher in Kriegsgebieten wie Uganda und Ruanda gezeigt.
Dabei lernen zum Beispiel Lehrer, aber auch Kinder, eine sogenannte traumafokussierte Psychotherapie durchzuführen. Bei der Therapie würden die Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen in Erzählungen aufgearbeitet, was letztlich eine Verarbeitung der Traumata bewirke, erläutert Neuner. Um solche Therapien in Deutschland zu etablieren, seien Sonderregelungen nötig. „Derzeit ist das nicht möglich, weil nach dem Gesetz nur ausgebildete Psychotherapeuten eine Psychotherapie anbieten dürfen.”
Quelle: dpa