Gefangen im eigenen Kopf – Leben mit einem Zwang

© picture alliance/Bildagentur-online

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Waschzwang, Kontrollzwang, Ordnungszwang. Weniger bekannt sind reine Zwangsgedanken. Rund eine Million Deutsche haben eine Zwangsstörung. Viele Betroffene verheimlichen sie aus Scham. Dabei sind Zwangsstörungen bei frühzeitiger Diagnose gut behandelbar.

Die Zahl 58 löst in Oliver Sechting Angst aus. Sie lähmt ihn, macht ihn handlungsunfähig. Innerhalb einer Stunde bekommt er Phantomschmerzen im Bein. In seiner Jugend sieht er einen Fernsehbericht über Skiunfälle, in dem die 58 auftaucht. Seither verbindet er die Zahl mit gebrochenen Armen und Beinen. In seinem Kopf läuft ständig ein Hintergrundprogramm ab. Es teilt seine Welt in positiv und negativ.

Sieht er eine negative Zahl, wie die 58, muss er diese neutralisieren, um ein Unglück zu vermeiden – so schreiben es seine Zwangsgedanken vor. Neutralisieren kann er zum Beispiel mit der Zahl sieben, er schreibt sie dazu auf ein Blatt Papier. Auch Farben, Namen und Gegenstände sind in seinem Zwangssystem kategorisiert. „Teilweise fühle ich mich durch meine Zwangsgedanken regelrecht fremdbestimmt“, sagt der heute 40-Jährige. Sogar in seinen Träumen sind sie präsent.

Die Fugen zwischen den Pflastersteinen

„Bei einer Zwangsstörung werden bestimmte Gedanken oder Handlungen zwanghaft wiederholt, so dass es die Betroffenen als unangenehm und belastend wahrnehmen“, erklärt Professor Peter Falkai, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Obwohl weniger bekannt, gebe es mehr Menschen mit reinen Zwangsgedanken als mit Zwangshandlungen, wie dem Waschzwang.

Erste Anzeichen einer Zwangserkrankung zeigen sich oft schon im Kindes- oder Jugendalter. Professor Ulrich Voderholzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, erklärt: „Auslöser für eine Zwangsstörung können traumatische Ereignisse sein, zum Beispiel eine starke Verunsicherung oder der Verlust des familiären Zusammenhalts.“ Ähnlich ist es bei Sechting: Als er elf ist, stirbt sein Vater, für Sechting bricht eine Welt zusammen.

Schon früher vermeidet er es, auf die Fugen zwischen Pflastersteinen zu treten – es beginnt als Spiel, wie bei anderen Kindern. Doch plötzlich keimt in ihm der Gedanke: Auf eine Fuge treten könnte den Tod seiner Mutter zur Folge haben. Er spricht aus Scham mit niemandem über seine Ängste und Gedanken. Und das spielerische Fugenüberspringen wird zwanghaft. „Der Zwang wirkt wie eine Kompensation, um die äußere Verunsicherung durch eine innere Struktur auszugleichen“, erklärt Voderholzer. Schon bald entwickelt Sechting weitere Zwangsgedanken – verbunden mit Zahlen oder Farben. Die Ängste kreisen mit zunehmendem Alter mehr um seine eigene Person als um seine Mutter. Die Befürchtung hinter all seinen Zwangsgedanken: Er vereinsamt und stirbt, wenn er nicht den Regeln seiner Zwänge folgt.

Lernen mit dem Zwang umzugehen

Professor Voderholzer weiß: „Mit einer Zwangsstörung sind starke Schamgefühle bei den Betroffenen verbunden. Sie empfinden den Zwang möglicherweise als lächerlich und verheimlichen ihn deshalb. Oft vergehen sechs bis sieben Jahre bevor Betroffene Hilfe aufsuchen.“ Auch Sechting verheimlicht seine Zwangsgedanken trotz Einschränkungen lange: „Ich wollte nicht in die Schublade ‚verrückt’ gesteckt werden. Ich wusste ja wie absurd und grotesk meine Gedanken sind.“

Nach dem Abitur beginnt er Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Doch das zahlenbasierte Studium ist für ihn nicht beherrschbar. Seine Zwangsgedanken rauben ihm jegliche Kraft, er hat Depressionen. Mit Anfang 20 kommt er in eine Klinik für Psychiatrie. Die Zwangsgedanken haben sich so verstärkt, dass die Ärzte ihn auf Schizophrenie behandeln. Er bricht die Therapie nach sechs Monaten ab.

Was die Ursachen für Zwangsstörungen sind, ist bis heute nicht abschließend geklärt. „Genetische Faktoren spielen eine Rolle, aber nur zu 30 bis 40 Prozent. Wir wissen zudem, dass bestimmte Hirnfunktionen gestört sind“, erklärt Vorderholzer. „Man könnte sagen, das Fehlermeldesystem im Gehirn ist überaktiv.“ Betroffene zweifeln infolgedessen ständig an sich selbst. Diese Unsicherheit und Angst auszuhalten, kann in einer Therapie erlernt werden. „Wir wissen, dass die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition die beste Therapie ist“, betont Voderholzer. Zudem sei es wichtig, den Betroffenen klar zu machen, dass ihr Zwangsverhalten nur kurzfristig Sicherheit bringe, langfristig aber die Zwänge verstärke.

Oft werden Zwänge zu spät behandelt

Oliver Sechting lehnt jahrelang jegliche Hilfe ab. Erst ein neuer Lebenspartner kann ihn zu einem Therapieversuch überreden. Er lässt sich auf eine Verhaltenstherapie ein und nimmt Antidepressiva. „Danach ging es mir das erste Mal in meinem Leben besser.“

Sein langer Leidensweg hätte durch eine frühe Diagnose und Therapie verkürzt werden können. Denn: „Wenn Zwänge möglichst früh erkannt und behandelt werden, bestehen gute Erfolgschancen einer Therapie“, sagt Professor Falkai. Zudem ist die Unterstützung von Freunden und Familie wichtig: „Angehörige sollten den Betroffenen möglichst vor Augen führen, wie stark der Zwang ihr gemeinsames Leben beeinträchtigt. Bemerkungen wie ‚du bist ja verrückt’ sind kontraproduktiv.“

Oliver Sechting arbeitet heute als Sozialpädagoge. Nach wie vor ist er in therapeutischer Behandlung und hat immer wieder Erschöpfungsdepressionen. Seine Zwangsgedanken sind nicht verschwunden, aber er kann seinen Alltag bewältigen. 2014 dreht er mit einem Freund einen Dokumentarfilm, in dem er seine Zwänge offen thematisiert. „Die positiven Reaktionen auf den Film haben mir sehr geholfen. Das erste Mal bin ich auch in Kontakt mit anderen Betroffenen gekommen.“ Früher habe er die Zwangsgedanken als etwas Fremdes betrachtet. „Heute weiß ich, sie sind ein Teil von mir, für den ich mich nicht schämen muss. Akzeptanz heilt nicht, aber hilft.“

Von Mira Fricke (dpa)