In die Stille der Beat

Kassandra Wedel (vorne) ist die erste und bislang einzige Gehörlose, die die Abschlussprüfung beim Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband (ADTV) abgelegt hat. In Kassandras Hip-Hop-Gruppe tanzen gehörlose, schwerhörige und Hörende gemeinsam. © dpa

Kassandra Wedel sucht das Rampenlicht. Sie spielt im „Tatort“, singt auf der Opernbühne und tanzt bei internationalen Wettbewerben. Dass die 32-Jährige nichts hört, davon lässt sie sich nicht aufhalten. Und von Vorurteilen schon gar nicht.

Der große schwarze Kasten steht in der Mitte des Tanzsaals, ohne ihn bewegt sich hier nichts. Die Schwingungen aus der Bassbox geben Schritte und Figuren vor. Mit ihrem ganzen Körper fühlt Tanzlehrerin Kassandra Wedel nach der Musik – denn hören kann sie die Töne nicht. „Wir Gehörlosen lassen uns viel zu oft abhalten von der Taubheit. Oder von Hörenden, die sagen: Du kannst das nicht. Das ist Quatsch, ich kann sogar tanzen! Ich musste nur erst meinen eigenen Weg finden“, erzählt die 32-Jährige.

Seit frühester Kindheit geht sie zum Ballettunterricht und hört auch nicht auf, als sie mit vier Jahren bei einem Autounfall ihr Gehör verliert. Mit Hilfe eines Hörgeräts lernt sie zu Hause mühsam die Melodien auswendig. Bis sie als Jugendliche Hip-Hop entdeckt: „Ich habe die Videos auf Viva und MTV gesehen. Das war einfach eine ganz andere Art zu tanzen, das wollte ich auch!“ Seitdem bleibt das Hörgerät aus. „Beat, Gesang, Melodien, das Gerät kann das nicht trennen, alles wird ein Geräusch und das klingt furchtbar. Auf mein Gefühl kann ich besser vertrauen.“

„Die meisten Gehörlosen sind Schreiner oder stehen am Fließband“

So legt Wedel auch die Abschlussprüfung beim Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband (ADTV) ab – „als erste und bislang einzige Gehörlose“, erklärt Christian Götsch von der Vereinigung der Tanzschulinhaber „Swinging World“. Drei Jahre dauerte die Ausbildung zur Tanzlehrerin. Seit 2004 unterrichtet Wedel nun in einem Münchner Tanzverein.

Sieben Augenpaare fixieren die zierliche Frau vor der Spiegelwand. Gerade erklärt sie die neue Choreographie – ihre Hände formen dabei die Worte. Synchron zur Gebärdensprache nutzt sie Lautsprache, problemlos gehen ihr auch die englischen Songtexte über die Lippen. Dann setzt die Musik ein, der Bass lässt die Fensterscheiben leicht vibrieren, die Gruppe beginnt zu tanzen. Im Gegensatz zur Lehrerin tragen einige Tänzerinnen Hörgeräte oder Cochlea-Implantate. Andere in der „Nikita Dance Crew“ hören ohne Hilfsmittel. Als der Song vorüber ist, schlägt Kassandra auf den Boden, ruft und wedelt mit den Armen. Es dauert einige Augenblicke, bis sie die Aufmerksamkeit aller Tänzerinnen hat. Dann gehen sie die Choreographie von vorne durch.

Warum drängt es Wedel auf die Bühne? Das Gespräch mit ihr läuft fließend. Ihrem Gegenüber liest sie von den Lippen. Bei Unklarheiten wartet sie geduldig, bis der Satz zu Papier gebracht ist. Sie suche das Rampenlicht, um gesehen zu werden. Um zu zeigen, dass es anders geht. „Die meisten Gehörlosen sind Schreiner, stehen am Fließband oder machen einen anderen Beruf vom Berufsbildungswerk für Gehörlose. Buchbinder zum Beispiel, das gibt’s heute kaum noch, aber es wird dort ausgebildet. Nur wenige machen es wie ich und gehen ihren Weg.“ 2016 nahm die Tanzlehrerin an der Fernsehshow „Deutschland tanzt“ teil. Sie avancierte zum Publikumsliebling und belegte vor Prominenten wie Oliver Pocher den ersten Platz.

„Gehörlose und Hörende haben danach zu mir gesagt: Wir haben dich nicht gewählt, weil du gehörlos bist. Sondern, weil du am besten getanzt hast. Das hat mir viel bedeutet.“ Die Tänzerin erreichten zahlreiche Mails, Fans drehen Videos für sie und verabreden sich in Gehörlosenzentren zum Public Viewing. Diese Unterstützung habe sie gerade zu Anfang ihrer Laufbahn vermisst. Stattdessen sei ihr von anderen Gehörlosen viel Neid entgegengeschlagen.

Schauspielrollen, die auf Gehörlosigkeit reduziert sind, lehnt sie ab

Je länger das Gespräch dauert, umso mehr begleitet Wedel das Gesagte mit Gebärdensprache. Ihr Gesicht und ihre Gesten erzählen nun ganz automatisch mit. „Deshalb haben wir Gehörlosen eine super Mimik“, erklärt sie. In den vergangenen Monaten stand Kassandra in den Münchner Kammerspielen auf der Bühne, übernahm eine Hauptrolle an der Oper Wuppertal. Auch im „Tatort“ spielte sie schon. Dass Gehörlose oft von Hörenden dargestellt werden, ärgere sie. Sie hat Theaterwissenschaft studiert. Das Schauspielern aber brachte sich Wedel selbst bei. Rollen, die auf Gehörlosigkeit reduziert sind, lehnt sie ab. Hier will sie genauso ernstgenommen werden wie beim Hip-Hop, wo sie sich in internationalen Wettkämpfen gegen Hörende behauptete.

Das Thema Inklusion spielt bei ihrer Tanzgruppe eine entscheidende Rolle. Die Tänzerinnen streifen sich gerade violette Handschuhe über. In der nächsten Choreographie sind Gebärden ein zentrales Element. Mit diesem Tanz reist die Gruppe im August in die USA nach San Francisco zu einem Tanzfestival für Gehörlose. Zwischen den Gruppen aus Hongkong und Russland wird die Crew auffallen. Vorab bat der Veranstalter: Zumindest die Hälfte ihrer Tänzer solle hörgeschädigt sein. Denn neben Gehörlosen und Schwerhörigen sind Hörende in Wedels Kursen explizit willkommen. Das ist bisher eine Ausnahme.

Von Linda Vogt (dpa)